Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
Staub zu einer wirbelnden Windhose auf, die hierhin und dorthin drehte wie apokalyptische Reiter, mit Sensen das Nichts schlagend, schreiend, heulend.
Ein Mann mit nur einem Bein hinkte auf Krücken an Alice vorbei. Er lachte widerlich vor sich hin, als Alice Hannos Namen rief. Wussten denn alle im Lager, dass Hanno ermordet worden war? Der Kindermord vor Bethlehem. Nein, Hanno war nicht tot. Da krabbelte er doch. Was tat er denn, der Schlingel? Er verschwand in einem fremden Zelt.
Der süßliche, scharfe Gestank von Fäulnis und Verwesung schlug Alice entgegen. Beim Schein einer Öllampe hockten drei Menschen auf dem Boden. Der eine von ihnen, ein ganz junger mit weißblondem Haar, schien Alice nicht zu bemerken, er klapperte ununterbrochen mit den Zähnen und stieß dabei irgendwelche Worte aus, die wie eine Litanei klangen. Der Alte jedoch kam sofort hoch, groß, mit langem, wildem Bart streckte er Alice drohend seinen schwarzen Armstumpf entgegen.
»Was willst du?«, fragte er böse.
»Mein Kind. Mein Hanno. Ist er hier?«
Der Mann lachte höhnisch. »Die Frau weiß nicht, dass ihr Bastard tot ist, ermordet, abgemurkst von den Ägyptern.«
Die Frau aber griff nach dem Messer, das neben ihr auf dem Erdboden lag, und ging auf Alice los:
»Du Metze, du Hure, du bist schuld an Gottes Zorn, du bist schuld, dass wir alle vor Jerusalem verrecken!«
Sie fasste Alice beim Arm und stach zu. Doch Alice war jünger und schneller und versetzte der Frau mit der freien Hand einen Schlag ins Gesicht, sodass die andere wimmernd zurückwich.
Entsetzt und durch diesen Schrecken zur Besinnung gekommen, hastete Alice aus dem Zelt. Hinter sich hörte sie das Gezeter und Geschrei:
»Das Miststück! Haltet die Hure fest!«
Alice lief. Sie stolperte. Nur weg, sie musste raus aus dem Lager, bevor das Weib alle aufgeweckt und auf Alice gehetzt hatte. Wenn Bernhard nur da wäre. Aber er war mit Rittern und Fußsoldaten zum Meer aufgebrochen.
Weiter. Wohin? Zum Friedhof. Zu Hannos Grab. Um Gottes willen, sein Schatten war fort. Hannos Schatten war fort. Alice fing an zu weinen. Sie taumelte, als sie den Acker erreichte, auf dem die Christen ihre Toten begruben.
Alice sank vor Hannos Kindergrab auf die Knie und krallte ihre Finger in den steinigen Boden. So verharrte sie lange. Tränen liefen ihr über das Gesicht, die sie nicht abwischte. Aus ihren Augen, aus ihrer Nase tropfte es. Es war ekelhaft, es war ihr selbst ekelhaft, jedoch sie wischte sich nicht ab.
Laut und jammervoll schluchzte sie:
»Mein Gott, mein Gott! Warum hast du mich verlassen? Warum hast du Hanno verlassen?
Nein, ich bin nicht schuld an unserem Elend.
Gott, du Allmächtiger, du weißt es selbst, dass ich nicht schuldig bin.
Ich war 15 Jahre alt, als mein Vater mit mir von Passau aufbrach. Gott, du bist mein Zeuge, dass ich nie etwas Unrechtes tat. Ich habe meinen Vater geehrt, wie es sich für eine gehorsame Tochter gehört. Noch mehr, ich habe ihn geliebt. Ich war zu allen freundlich, zu den Mägden und Knechten, zu Elias, dem Juden, zu den Kindern, mit denen ich gespielt habe, zu Martin und sogar zu Martha, obwohl ich sie nicht mochte und immer Angst vor ihr hatte. Den Armen habe ich in der Adventszeit Geschenke gebracht, und nicht nur dann. Ich habe gelernt, mildtätig zu sein, und war es gern, obwohl ich mich vor den Hühnern unter der Bank ein wenig gefürchtet habe. Wenn ich einmal eine kleine Sünde begangen habe, etwas genascht oder auch mal gelogen, dann habe ich gebeichtet und wirklich bereut. Du, Gott, weißt es, denn du kannst in die Herzen und Gedanken der Menschen sehen.
Niemals hätte ich eine Todsünde begangen, um deretwillen wir nach Jerusalem hätten ziehen müssen.
Was kann ich für die Sünden meiner Vorfahren, wenn es denn Sünden waren. Was kann ich dafür, dass mein Vater meine Mutter geheiratet hat, obwohl er sie nicht liebte und obwohl er wusste, dass sein Bruder sie liebte. Was kann ich dafür, dass Martha ihre Herrin loswerden wollte und, um meinen Vater zu besitzen, meine Mutter getötet hat.
Was kann ich dafür, dass der Abt meinen Vater aufhetzte, nach Jerusalem zu ziehen, dass er, unter dem Mantel der Frömmigkeit, sich rächte. Gottvater im Himmel, ich bin unschuldig, ich war es jedenfalls, als ich die Pilgerreise antrat.
Du aber hast mich in das Leiden, in die Schuld geführt.
Was hätte ich tun können? Hätte ich das dem Abt gegebene Versprechen brechen und meinem Vater das Geld geben sollen? Er hätte es nur
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