Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
grinsen. Aber das war mehr ein Gefühl, als dass sie es wirklich sah. Es schien ihr, als verfolgte er ihren Gang, bis sie den väterlichen Wagen erreichte.
Auf dem Boden in der Wagenecke neben dem Sitzbock kauerte der Vater, ein Stück Holz im Mund, auf das er gegen den Schmerz kräftig biss.
*
Gegen Abend kehrten die Männer allmählich ins Lager bei Selymbria zurück. Sie hatten sich Säcke über die Schultern gehievt, zogen an Stricken Schweine und Ziegen hinter sich her oder hatten Hühner gepackt, deren Kopf nach unten baumelte und deren harte Sehnen ihnen in die Hände schnitten. Überall loderten Feuer auf, die sich mit den hellen Flammen der brennenden Bauernhöfe in der Umgebung von Selymbria zu einem roten Schein vermischten.
Alice saß auf ihrem Wagen, beobachtete, roch, wie rings um sie herum Fleisch gebraten wurde, das den Geruch des Meeres überdeckte, den sie gestern zum ersten Mal in ihrem Leben gierig eingesogen hatte. Ja, sie hatten das Meer erreicht, an dessen Ufer nicht mehr weit entfernt die prächtigste aller Städte, Konstantinopel, lag. Das Meer, weißlich war es von der Ferne, breitete sich grau und donnernd vor ihnen aus. Das Licht der Sonne, die durch die Wolken brach, schien die Schaumkronen der Wellen zum Leuchten zu bringen. Den Himmel durchzuckten helle Strahlen, die wie ein Fingerzeig Gottes wirkten. Und wie eine Flut der unendlichen Erleichterung, der Freude und des Jubels waren sie zu Tausenden an den Strand gestürmt, waren auf die Knie gefallen, hatten geweint und gelacht und sich die Kleider vom Leibe gerissen und hatten sich in das winterliche Wasser gestürzt. Der Meeresboden war steinig und pikste unter den Füßen. Dennoch gingen sie weit ins Meer, bis sie sich gänzlich hineinwarfen. Auf den Schaumkronen thronten die Hauben von Frauen, sie versanken in den Tälern und tauchten erhobenen Hauptes wieder auf. Vergessen die Qualen dieses endlos langen Marsches, so jubelten sie, während sie das salzige Wasser spürten, das auf der Haut klebte. Was sie erreicht hatten, das hatte noch niemand vor ihnen geschafft und es würde auch niemals wieder einem Heer gelingen. Am 15. August waren sie in Lothringen aufgebrochen und nun, am 12. Dezember – noch vor Weihnachten –, hatten sie die Küste des Marmara-Meeres erreicht. Dort drüben, auf der anderen Seite, nicht sichtbar und doch so viel näher als jemals zuvor, war Jerusalem. Ach, Jerusalem. Der Papst hatte ausgerufen: »Gott will es!« – und Gott wollte es. Er hatte sie geführt durch Ungarn, Serbien, entlang dem Balkangebirge, die weiteste Strecke von allen Kreuzfahrerheeren – und sie hatten als Erste von allen Pilgern Konstantinopel sozusagen erreicht. Sie waren stolz auf sich, während sie nun zum Gottesdienst am Strand niederknieten und beteten. Voller Bewunderung blickten sie auf den Mann, der sie bis hierhin geführt hatte. Groß und mächtig stand am Saum des Meeres der Herzog von Bouillon, seine helle Gesichtsfarbe, sein blondes wehendes Haupthaar und sein Bart verhießen Schutz und Stärke in allen Kämpfen. Ehrfürchtig blickten Männer und Frauen und Kinder, gleich welchen Standes, zu diesem untadeligen, starken, christlichen Ritter auf.
Einzig störend wirkte nur die byzantinische Begleitmannschaft, diese Bewachung, diese dunkelhäutigen Männer mit ihren verschlagenen, listigen dunklen Augen und ihren schwarzen Bärten. Die waren doch gar keine richtigen Christen. Richtig war es, dass der Legat des Papstes den Patriarchen von Konstantinopel damals exkommuniziert hatte. Dieser elende, verruchte Fresser von gesäuerten Broten, hatte den Kirchenbann mehr als verdient, war es doch klar erwiesen, dass unser Herr Jesus Christus das Abendmahl mit ungesäuertem Brot eingesetzt hat. Niemals könnte die Wandlung durch das Essen von gesäuerten Broten geschehen. Doch die Byzantiner hielten starr an diesem frevelhaften Brauch fest, auch des Morgens, als für die wahren, die römisch- katholischen Christen die Messe zelebriert und gleichzeitig ein Gottesdienst von den byzantinischen Gotteslästerern abgehalten wurde.
Alice kniete neben ihrem Vater und weit vor ihr kniete Ritter Bernhard, was Alice so sehr verwirrte, dass sie ganz wütend auf sich wurde, da verbreitete sich die Kunde, lief durch das ganze Heer, dass Graf Hugo Vermandois, der Bruder des Königs von Frankreich, bereits in Konstantinopel eingetroffen sei, dass er aber, statt in Ehren empfangen und mit Geschenken überhäuft zu werden, vom
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