Die Pilgerin von Passau: Historischer Kriminalroman (Historischer Roman) (German Edition)
ihr Vater unter Schmerzen seinen Wunsch gestammelt, sie möge den Ritter bitten, von dem jüdischen Arzt, der ihm so kunstvoll und kenntnisreich den Zahn gezogen habe, den Schlafmohn zu besorgen.
Angst hatte Karl ergriffen, es könnte die letzte Gelegenheit sein, an diesen Schmerzlinderer heranzukommen, denn der Aufbruch nach Konstantinopel stand unmittelbar bevor – und dann könnte er womöglich keinen Arzt finden, der dieses seltene, kostbare und teure Gnadenmittel der Schmerzfreiheit besäße und verkaufen würde. Denn Konstantinopel, diese Stadt der Wunder, diese größte Stadt der Welt, reich, schön an Palästen, Basaren, Kirchen, Kunstwerken, Mosaiken, Brunnen, Gärten und Luxus aller Art, dieses sagenhafte Konstantinopel würden sie niemals sehen dürfen! Wut und Empörung zischelten untergründig und offen durch das Lager – nach diesen Strapazen das Verbot, Konstantinopel überhaupt betreten zu dürfen. Vor den Stadtmauern, irgendwo am Goldenen Horn, würden sie ihr Lager aufschlagen müssen! Trotz des Winters, trotz der Stürme, die vom Mittelmeer wehten und Regen und Kälte brachten, müssten sie in klammen Zelten draußen übernachten, und dies, obwohl Kaiser Alexios sie inständig durch den Papst gebeten hatte, für ihn die Ungläubigen zu besiegen. Welch eine hinterhältige Memme war dieser Kaiser!
Für Karl aber, der sich vorgestellt hatte, Alice könne in Konstantinopel, dieser Stadt der Heilkunst und des medizinischen Wissens des Orients, das ersehnte Pulver besorgen, bedeutete die Abschottung Konstantinopels eine Katastrophe. Sein Mut, seine Geduld waren zusammengebrochen, denn Wein half nichts im Vergleich zu diesem Heilmittel, das ihn das Ziehen des Zahnes fast nicht hatte spüren lassen. Karls ganze Hoffnung gründete sich nun allein auf seine hübsche Tochter und ihren vertrauten Umgang mit dem Ritter von Baerheim, der ihr zuliebe den Schlafmohn von dem Juden beschaffen sollte.
Alice fühlte sich verraten und elend. Je näher der Abend kam, desto mehr verkrampfte sie sich, sie hatte Angst, sich Bernhard anzuvertrauen.
Sohn eines Grafen, dachte sie bitter, der hält das sicher für selbstverständlich, sich jede Frau zu nehmen, die er will. Da gibt es ja sogar das Recht des adeligen Grundherrn auf die erste Nacht … Und die junge Braut kann nichts dagegen machen, muss ihm zu Willen sein, während der Bräutigam fast verrückt wird vor Eifersucht. Allerdings, überlegte Alice und versuchte, ihre aufgewühlte Seele zu beschwichtigen, bisher hatte Bernhard sie ihre Abhängigkeit nicht so richtig spüren lassen. Bisher hatte er von sich aus, ohne dass sie ihn gebeten hätte, am Abend etwas zu essen gebracht, vor allem Brot und auch Wein, den sie dringend für ihren Vater benötigte. Nun aber musste sie ihn aus Liebe zu ihrem Vater um einen Gefallen bitten, der um so größer war, als der Herzog von Bouillon, um Kaiser Alexios nicht weiter zu reizen, jedes weitere Betreten von Selymbria unter Androhung der Todesstrafe verboten hatte.
Alice erschrak. Aus der Dunkelheit heraus stand Bernhard plötzlich vor ihr, neigte andeutungsweise sein Haupt und sprach:
»Wie versprochen, bin ich da.«
Alice kroch in den hinteren Teil des Wagens zu ihrem Vater.
»Gib auf dich acht, Alice«, ermahnte der Verwundete seine Tochter. Alice antwortete darauf wortlos mit einem schmerzlichen Lächeln.
Durch die Reihen schlafender Menschen hindurch ging Alice neben Bernhard zu dessen Zelt. Sie saßen auf, Alice fühlte die Wärme des Tieres, sie streichelte seine Mähne, was sie etwas beruhigte. Vorsichtig, um niemanden zu wecken oder zu verletzen, ritten sie langsam aus dem Lager zum Strand, zum Meer. Die Pferde lobend, banden Alice und Bernhard sie an einen Baum und gingen zu Fuß am Meer entlang, das sie hören, bei dem Mondlicht jedoch nur als dunkle Masse erahnen konnten.
Bernhard wollte offenbar Alice’ Beklommenheit und Sprachlosigkeit überbrücken, denn er bemühte sich sichtlich, den Schein eines Gespräches aufrechtzuerhalten, indem er selbst erzählte. Der Herzog von Bouillon habe sich bei den französischen Abgesandten des Kaisers Alexios entschuldigt, er könne sie zu seinem tiefsten Bedauern nicht standesgemäß bewirten, schon gar nicht, was die Menge des ihnen zustehenden Geflügels betreffe. Diese Provokation hätten die Franzosen widerspruchslos hingenommen, worauf der Herzog sie wohl noch mehr verachtet habe. Denn sie seien lächerlich. »Ridicule!«, wie Bernhard ausrief. Sie trügen
Weitere Kostenlose Bücher