Die Plantage: Roman (German Edition)
reagierte betroffen, gleichzeitig übte der Fall eine besondere Faszination auf ihn aus. Immer wieder las er die Zeitungsartikel, in denen die seltsamen Verletzungen des Opfers geschildert wurden, und glaubte, den blutüberströmten Körper der Frau bildlich vor Augen zu haben. Selbst ihreHaarfarbe und das Muster ihres Umschlagtuchs hätte er beschreiben können; er war erstaunt über seine Vorstellungsgabe. Dann fand er seine blutbesudelten Kleider. Sie lagen in einer verschlossenen Kommode neben seinem Bett. Er selbst musste sie dort hineingelegt haben, denn er trug den Schlüssel immer bei sich. Was hatte das zu bedeuten?
Der Mord hatte sich in der Nacht seines schweren Anfalls zugetragen. Er konnte sich nicht erinnern, was auf dem Heimweg geschehen oder wie er nach Hause gekommen war. Doch sah er vor dem geistigen Auge den Schauplatz des Mordes, sah seine eigenen blutverschmierten Hände und die verstümmelte Leiche einer Frau. Er musste dort gewesen sein und etwas getan haben, das die blutstarrenden Kleider in der Kommode erklärte.
Natürlich wusste Reed, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Die ständigen Absencen hingen mit einem Defekt zusammen, der schon einmal dazu geführt hatte, dass er eine Frau misshandelt hatte. Doch seitdem war er auf der Hut, er hatte sich keiner Frau mehr genähert. Wenn er etwas mit dem Mord am Hafen zu tun haben sollte, dann musste etwas passiert sein, worauf er keinen Einfluss hatte.
Schon in früher Kindheit fiel ein Schatten auf Reeds Gemüt. Unbemerkt hatte eine Krankheit in ihm gekeimt und einen Fremdkörper hervorgebracht, ein missgestaltetes Imitat seines Wesens, das sich von den Demütigungen und dem seelischen Leid seiner Jugend nährte. Als junger Mann hatte er erstmals Absencen. Ein unüberwindbarer Widerwille hinderte ihn daran, deren Ursache zu ergründen; seine Versuche, den Erinnerungsverlust einer Absence nachzuvollziehen, steigerten die innere Abwehr, konnten sogar zur Ohnmacht führen. Auch jetzt musste er mit erheblichem inneren Widerstand rechnen, wenn er versuchen würde, die Vorgänge der Mordnacht zu rekonstruieren. Also wählte er einen anderen Weg: Er rief sich seine Vision des Tatorts vor Augen.
Die Wirkung war so heftig, dass ihm schwindelte. Sein dunkler Zwilling, die Kehrseite seines Bewusstseins, packte ihn mit eiserner Faust und ließ ihn seinen aggressiven Willen spüren. Er sog ihm den Atem aus den Lungen, warf ihn zu Boden und hielt ihn dort fest.
Was willst du von mir? , dröhnte es hinter seiner Stirn wie Glockenschläge.
Stöhnend schloss er die Augen und dachte: Hast du die Frau getötet?
Du warst es! Du tust, was ich tue!
Wer … bist du?
Ich bin Algernon. Ich bin, was du bist. Tu, was ich tue!
Am nächsten Morgen fühlte er sich zerschlagen. Ich bin ein Mörder, sagte er zu sich, und ich bin geistesgestört. Gefasst überdachte er seine Lage. Bisher hatte niemand die Spur bis zu ihm verfolgt, und es war unwahrscheinlich, dass man ihn mit der Mordsache in Verbindung brächte. Aber die Anfälle würden wiederkehren, und da er jetzt wusste, wozu er dann fähig war, musste er etwas unternehmen. Zunächst las er alles, was er an Literatur über psychische Abnormitäten in die Hände bekam. Dabei stellte er fest, dass die Wissenschaft zwar verschiedene Erscheinungsformen des Irrsinns beschreiben konnte, die Ursache der Erkrankung aber im Dunkeln blieb. Und trotz aller Gelehrsamkeit war es offenbar nie gelungen, geistesgestörte Menschen zu heilen. Stattdessen verbarg man sie vor der Welt, ließ sie in Käfigen dahinvegetieren oder verkaufte sie zu Studienzwecken an zweifelhafte Gelehrte. Für Kreaturen wie ihn gab es wenig Hoffnung, und wenn er nicht auf elende Art enden wollte, musste er dafür sorgen, dass niemand von seinem Zustand erfuhr.
Er war immer zurückhaltend gewesen, nun wurde er menschenscheu. Gesellschaftlichen Umgang pflegte er nur noch, wenn es aus geschäftlichem Interesse unvermeidbar war. UmHöflichkeitsbesuchen von Nachbarn oder Bekannten zu entgehen, verbrachte er die freien Nachmittage auf den Rennplätzen vor der Stadt, wo er den Jockeys beim Training seiner englischen Vollblüter zusah. Manchmal schaute er sich auch eines der Footballspiele an, die samstags auf einer Pferdeweide hinter den Rennställen stattfanden. Hafenarbeiter traten gegen die Soldaten von Fort Sullivan an. Es kamen alle möglichen Zuschauer, Fuhrknechte, Dandies, einfache Leute. Wetten wurden abgeschlossen, Krüge mit Ale und Rum
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