Die Plantage: Roman (German Edition)
vertraute darauf, dass Roscoe sich im Ernstfall aus purem Eigennutz loyal verhalten würde, nachdem er sich erst an die Annehmlichkeiten gewöhnt hatte. Im Übrigen bezweifelte er, dass Roscoe begriffen hätte, was es mit den Anfällen auf sich hatte, wenn er versucht hätte, es ihm zu erklären.
Es ging lange Zeit gut. Reed hatte hin und wieder Absencen, was aber nicht weiter auffiel. Dann bemerkte Roscoe, dass sein Freund nicht mehr ausgehen wollte. Reed lief ruhelos durchs Haus, schlief immer weniger, wurde nervös. Einige Tage war er gar nicht mehr ansprechbar und schloss sich in seinen Räumen ein. Dann erschien er eines Abends, bereit zum Ausgehen, und befahl, den leichten Wagen anzuspannen; Roscoe sollte kutschieren. Reed wirkte unangenehm verändert, ungeduldig und herrisch, wie Roscoe ihn noch nie erlebt hatte. Sie fuhren zum Hafen, im Vergnügungsviertel ließ Reed ein Mädchen von der Straße zu ihnen in den Wagen steigen, dann fuhren sie stadtauswärts, durch unbebautes Gelände am Fluss entlang zu den alten Landungsbrücken.
Bei einem Lagerhaus ließ Reed anhalten. Er nahm die Laterne vom Kutschbock, ging voraus und stieß die Tür zu einem Verschlag auf. Wortlos bedeutete er den anderen hineinzugehen. Roscoe tat wie geheißen. Als das Mädchen zögerte, zerrte Reed sie kurzerhand mit hinein und verriegelte die Tür. Er legte Rock und Weste ab. Roscoe lehnte abwartend beim Eingang und fragte sich, welche Rolle ihm wohl zugedacht sei, als Reed die Frau ohne Vorwarnung niederschlug. Roscoe schrie ihn an, was in aller Welt in ihn gefahren sei. Reed beachtete ihn nicht, er schlug die Frau ein zweites und drittes Mal mit solcher Rohheit, dass sie verängstigt vor ihm liegen blieb. Roscoe wollte dazwischengehen, dann sah er ein Messer in Reeds Hand und wich zurück. Reed indessen packte die wimmernde Frau, zog sie in den Lichtkreis unter der Laterne, zerriss ihr das Kleid und band mit einem Fetzen Stoff ihre Hände zusammen. Roscoe wurde klar, dass sein Freund etwas Abscheuliches vorhatte,aber er machte keinen weiteren Versuch, der Frau zu helfen. Was ihn zurückhielt, war keine Furcht. Er stand einfach da und sah zu, während Reed tat, was er tun musste.
Als es vorbei war, kauerte Reed über der Toten wie ein Raubtier über der Beute. Er hob den Kopf und sah Roscoe ohne Anzeichen des Erkennens an, dann brach er bewusstlos zusammen. Roscoe hielt es in dem Verschlag jetzt nicht mehr aus, er riss den Türriegel zurück und stolperte ins Freie.
Es war eine Nacht ohne Mond, der Lichtschein vom Eingang verlor sich nach wenigen Schritten. Blind und orientierungslos lief er durch die Dunkelheit, direkt auf den Fluss zu; der nachgiebige Untergrund warnte ihn im letzten Moment. Schwer atmend blieb er auf der Uferböschung stehen und ließ sich zurück ins feuchte Gras fallen.
Was sollte er jetzt tun? Offenbar war Reed wahnsinnig geworden! Verstört dachte er an seinen Freund, der bewusstlos in dem Verschlag neben der Toten lag. Würde er so gefunden, blutbesudelt über dem verstümmelten Opfer, wäre er verloren … Dío , Algernon war ein Irrer, ein wahnsinniger Mörder! Womöglich hatte er so etwas schon früher getan. Aber wie hätte er sein mörderisches Verhalten auf die Dauer vor ihm verbergen können? Sie waren immer zusammen, Reed wollte ja, dass er ihn überall hin begleitete.
Eine ungute Ahnung kam ihm, dass sein Freund wusste, was für bestialische Dinge er tat, und dass sie heute Nacht nicht zufällig hier waren. Jetzt, in schwärzester Nacht verstand er endlich, weshalb Reed ihn in seiner Nähe duldete. Überwältigt von Scham, Demütigung, Enttäuschung und einem anderen, noch viel furchtbareren Schmerz verbarg er das Gesicht in den Händen und weinte. »Oh Algernon, Algernon! Ich hätte dich niemals zurückgelassen!«
Er wollte nicht an Reeds Zuneigung zweifeln. War er nicht immer geduldig und freundlich mit ihm, schenkte er ihm nicht mehr Aufmerksamkeit als irgendjemand zuvor? Er kanntekeinen großzügigeren Menschen, selbst die exorbitanten Spielschulden hatte er anstandslos beglichen. Er war sein einziger Freund. Was würde aus ihm, wenn Reed nicht mehr da wäre?
Es klarte langsam auf, Sterne erschienen am Nachthimmel. Roscoe trocknete mit dem Rockärmel sein Gesicht und ging zu dem Lagerhaus zurück. Erst trug er die Tote hinunter zum Fluss. Als er den Leichnam in die Strömung gleiten ließ, bekreuzigte er sich. Danach kümmerte er sich um seinen Freund, brachte ihn auf die Beine und fuhr
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