Die Plantage: Roman (German Edition)
transatlantisch nach Amerika zu den neuen unabhängigen Staaten der amerikanischen Ostküste und nach Nouvelle France im Norden. Als Londoner Generalagent der New Yorker Starline Company wusste Oliver Roscoe, wie rigide die Regeln des Seehandels unter dem englischen Protektionismus durchgesetzt wurden. Als er sah, wie viele Geschäfte außerhalb der gesetzlichen Zoll- und Einfuhrbestimmungen getätigt wurden, machte er sich auch mit den Regeln des Schleichhandels vertraut.
In seiner Funktion als Vertreter einer amerikanischen Reederei stellte er Kontakte zu einer Gruppe vermögender Personen her, die ihr Geld in Kaperschiffe investierten. Es war nicht schwer, diese Leute von der Lukrativität des Schwarzhandels zu überzeugen und für eine Zusammenarbeit zu interessieren. Roscoe bot an, die Schiffe der Starline für illegale Warentransporte zur Verfügung zu stellen. Dafür ließ er sich einen entsprechenden Gewinnanteil an allen über die Starline-Flotte laufenden Transporten zusichern. Darüber hinaus bestand er darauf, die Abwicklung selbst zu überwachen und nur von ihm engagierte und bezahlte Leute einzusetzen. Die Vereinbarung erwies sich für alle Geschäftspartner als lohnend.
Er hatte viel erreicht. Sein Status als Generalagent der Starline verschaffte ihm das gesellschaftliche Entree, der Waffenhandel finanzielle Freiheit. Wenn es seinen Interessen diente, ließ er Geschäftsbeziehungen in private, intimere Verhältnisse übergehen. Seine bedenkenlose Promiskuität öffnete ihm manche Tür in den gehobenen Kreisen; DuBreille war nur einer von vielen, die er sich so zu Dank verpflichtet hatte. Überhaupt fand er in der Alten Welt die Umgebung charakterlicher Extreme, die seinen Neigungen entgegenkam.
Seit zwei Tagen war Néné in einem Turm über einem brackigen Abzugsgraben eingesperrt. Durch ein vergittertes Fenster konnte er ein paar Baumwipfel sehen und das Stück Themse,das die Anlage im Süden begrenzte. In seinem Gefängnis war gerade Platz, um zwei Schritte von einer Wand zur andern zu gehen. Wenigstens gab es eine Holzpritsche und in der Außenmauer einen Abtritt. Neben der Tür stand auch ein Eimer mit Trinkwasser und einer Schöpfkelle.
Anscheinend hatte man ihn vergessen. Er hörte in seiner Umgebung keinen Laut und hatte bohrenden Hunger. Weil der Raum auch tagsüber dämmrig blieb, war ihm jedes Zeitgefühl abhandengekommen.
Beim Geräusch eines Schlüssels, der im Schloss gedreht wurde, fuhr er aus dem Schlaf. Die Tür ging auf, jemand hielt eine Laterne hoch.
»Mitkommen, Nigger. Wird’s bald!«, blaffte Gibbs.
Néné hielt es für das Beste, keine Fragen zu stellen, und lief vor dem Mann den Gang entlang bis zu einer Pforte in einem spitz zulaufenden steinernen Bogen. Gibbs stieß die Pforte auf, und sie traten auf einen Balkon: es war ein Altan, die Brüstung durchbrochen von gotischen Spitzbögen; unter der Holzbalkendecke eines riesigen Saales ragte er in den freien Luftraum hinaus. Vorsichtig folgte Néné dem Mann ans Geländer und sah hinunter.
Der Saal war für ein Bankett gerichtet, eine lange Tafel für eine größere Gesellschaft gedeckt. Kerzenleuchter standen zwischen silbernen Tellern und schimmernden Trinkpokalen. Schalen mit Obst und Brot sowie Zinnkrüge waren zwischen den Plätzen verteilt; jäh verspürte Néné seinen Hunger. In den Leuchtern waren nur einzelne Kerzen entzündet, die zusammen mit dem unsteten rötlichen Lichtschein eines Kaminfeuers den Saal leidlich erhellten. Die Szene mutete altertümlich, düster, fast unheimlich an.
Jemand rief: »Bringen Sie ihn herunter.«
Gibbs dirigierte Néné unsanft zur Rückseite des Altans, wo eine Treppe mit ausgetretenen Stufen in den Bankettsaal hinunterführte.
Von unten betrachtet, gab das Verhältnis von Länge zu Breite dem Saal noch wuchtigere Dimensionen. Néné erblickte auf der rechten Längsseite einen wahren Höllenschlund von einem Kamin, übermannshoch und mit Granitblöcken umfasst, in dem ein prasselndes Feuer brannte. Vor dem Kamin in einem hochlehnigen Stuhl saß Roscoe. Als Néné aus dem Schatten des Altans hervortrat, erhob er sich und kam mit seltsam federnden, zeremoniellen Schritten zu dem Tisch in der Saalmitte. Im flackernden Licht glitzerten Partien seines Rocks, als rieselte Goldstaub aus den Faltenwürfen. Seine extravagante Aufmachung vor dem mittelalterlichen Rahmen der Burg war der Gipfel der Selbstinszenierung.
Für diese Nacht war er in Samt und Seide gekleidet. Er trug ein Hemd
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