Die Poison Diaries
Deckelterrine, um sie warm zu halten. Dann nehme ich mir einen kleinen Zinnteller und eine Gabel und bringe alles hinunter in den Kohlenkeller.
»Weed, ich habe dir etwas zu essen gekocht.«
»Was ist es?«, fragt er zögernd.
»Kartoffeln.«
Voller Abscheu wendet er sich ab und bedeckt den Mund mit der Hand. »Nein, das kann ich nicht essen.«
»Doch, du kannst. Du musst. Es gibt einen Weg, diese Dinge zu essen, einen Weg, der gut und würdevoll ist. Wenn du dies gelernt hast, wirst du in der Lage sein, alle Früchte der Erde essen können, ohne Angst haben zu müssen, etwas Lebendiges zu verletzen. Das gilt auch für Kartoffeln, Karotten und Äpfel.«
Sehe ich da ein hoffnungsvolles Aufflackern in seinen Augen? Die Kartoffeln duften köstlich.
»Welcher Weg kann das sein?«, fragt er schließlich.
»Der Weg der Dankbarkeit. Du musst lernen, ein Dankgebet zu sprechen. So etwa.« Ich mache es ihm vor: »Danke für alles, was mir beschert wurde.« Langsam schiebe ich ein Stück Kartoffel in meinen Mund.
Ablehnend schaut er zur Seite. Ich bleibe ruhig.
»Siehst du?«, sage ich, nachdem ich geschluckt habe. »Es passiert nichts Schlimmes. Jetzt versuch du es.«
Mit zitternden Fingern nimmt er eine gekochte Kartoffel. Beim ersten Mal spreche ich die Worte mit ihm. »Danke für alles, was mir beschert wurde.«
Er beißt ein kleines Stück ab und hält dann inne, als ob er nicht wüsste, was er als Nächstes tun soll.
»Noch einmal«, fordere ich ihn auf. »Sag es.«
»Danke für alles, was mir beschert wurde.« Weed beißt wieder ab, kaut und schluckt.
»Siehst du? Alles in Ordnung.« Ich reiche ihm die Terrine. »So hat es die Natur eingerichtet.«
»Danke für alles, was mir beschert wurde.« Ein neuer Ausdruck zieht über sein Gesicht, während er isst. Ich sehe in seinen Augen die Flut der überwältigenden Gefühle, die das Essen in seinem leeren Magen auslöst.
»Danke für alles, was mir …«
»Du musst es nicht vor jedem Bissen sagen«, unterbreche ich ihn. »Einmal vor jeder Mahlzeit reicht völlig aus.«
Er nickt und schiebt sich ein weiteres Kartoffelstück in den Mund.
Kapitel 6
8 . April
Ein schöner, klarer Tag.
Die Sonne beschenkt uns mit einem warmen, glänzenden Licht. Überall entblößen die Bäume schüchtern ihr neues Laub, ganz zart und hellgrün. Der Weidenbaum steht schon in voller Blüte. Schwer beugen sich die Zweige unter der Last der zarten Kätzchen. Die Knospen des Rhododendrons sind bis zum Platzen angeschwollen; an den Nahtstellen blitzt es rosa und violett auf. Jeden Tag öffnen sich neue Blüten auf der Wiese und malen bunte Tupfen in das Gras: Hyazinthen, Veilchen und buttergelbe Narzissen.
Es ist Frühling, und die Welt erwacht. Ich halte es im Haus kaum aus – am liebsten würde ich unter den Sternen schlafen. Aber Weed bleibt in der Kohlenschütte wie ein Kern in seiner Schale – er will einfach nicht aufgehen.
Ich muss ihn dazu bringen, ebenfalls zu erwachen.
» W ie alt bist du, Weed?«, frage ich, als ich ihm das Frühstück bringe: eine Schüssel Haferbrei, ein gekochtes Ei, zwei Äpfel und zwei Scheiben Speck, Tee und eine Tasse frischer Milch. Jetzt, da er einen Weg gefunden hat, Getreide und Früchte ohne Scheu und schlechtes Gewissen zu essen, isst er eine ganze Menge. Als ich ihn damals gesehen habe, eingewickelt in diese Lumpen, dachte ich, er wäre jünger als ich, aber mittlerweile setzt er Fleisch an und bekommt rosige Wangen, und ich vermute, dass er in meinem Alter ist, wenn nicht noch älter.
Er steckt sich die Serviette unter dem Kinn fest und zuckt die Achseln. »Wie alt ist das Gras?«
Das Frühstückstablett steht auf einer Holzplanke, die wir quer über die Kohlenschütte gelegt haben. Er sitzt auf dem Schemel und ich hocke auf der untersten Treppenstufe. »Auf deine Frage gibt es keine Antwort«, sage ich. »Das Gras stirbt jedes Jahr im Winter und kehrt im darauffolgenden Frühling wieder zurück. Es kann nicht in Jahren bemessen werden. Es lebt ewig und wird doch jedes Jahr neu geboren.«
»Dann muss ich wohl ebenso alt sein.« Er hebt die Gabel und spricht: »Danke für alles, was mir beschert wurde.«
»Du bist also so alt und so jung wie das Gras?«, frage ich neckend. Er verzieht keine Miene.
»Die Wahrheit ist, dass ich es nicht weiß«, sagt er nach einer Weile. »Von einem betrunkenen Ordensbruder in einem Korb gefunden zu werden, taugt wahrlich nicht viel als Geburtstag.«
»Dann kann von heute an der schönste
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