Die Poison Diaries
Manche sind alles andere als seriös. Vipernfleisch. Das gemahlene Horn eines Einhorns.« Voller Verachtung schüttelt sie den Kopf. »Ich habe erfahren, dass Dr. Carburi versucht hat, die wahre Rezeptur wiederzuentdecken. Wenn er Erfolg hatte und sich überzeugen lässt, sein Wissen mit uns zu teilen, wäre es für uns von großem Vorteil, einen Vorrat an Mithridat anzulegen.« Ihre Augen leuchten. »Weed, wenn Dr. Carburi die Rezeptur gefunden hat, könntest du die Heilpflanzen des
Orto botanico
fragen, ob man sie noch verbessern kann. Wären sie wohl in der Lage, das zu entscheiden?«
»Vielleicht«, sage ich. Plötzlich überkommt mich ein unbehagliches Gefühl. Ich weiß, dass die Absichten von Signora Baglioni ehrenhaft sind. Der
Orto botanico
hat nur den Wunsch, Gutes zu tun. Aber was sie von mir verlangt, ähnelt gar zu sehr der Forderung, die Thomas Luxton seinerzeit an mich herantrug: Ich soll in den Garten gehen und den Pflanzen Wissen zum Nutzen der Menschheit entlocken.
Ist die Grenze zwischen Gut und Böse tatsächlich so dünn? Nur ein kleiner Unterschied in den Absichten?
Die Pflanze, die tötet, ist auch die Pflanze, die heilt. Das Entscheidende ist die Dosis.
Ich weiß, dass es stimmt. Was ist dann mit mir? Und mit Oleander? Sind auch wir aus derselben Substanz erschaffen?
»Hier sind wir«, sagt Signora Baglioni und blickt an der Fassade eines imposanten Gebäudes empor. »Der Palazzo Bo.«
Ich halte sie zurück, als sie die Tür öffnen will. »Hat König Mithridates’ Strategie funktioniert? Konnte er tatsächlich mit der Einnahme von kleinen Mengen Gift verhindern, vergiftet zu werden?«
»Es hat zu gut funktioniert«, erwidert sie. »Am Ende seines Lebens, geschlagen und besiegt von seinen Feinden, wollte sich König Mithridates nicht lebendig gefangen nehmen lassen. Er tötete seine Frauen und Kinder, und dann versuchte er, sich selbst das Leben zu nehmen. Aber seine Abwehrkräfte gegen Gift waren so stark, dass er nicht starb. Am Ende musste er einem seiner Soldaten befehlen, ihn mit dem Schwert zu erstechen.« Sie hebt die Hand, um zu klopfen. »Ironie des Schicksals, nicht wahr? Aber tot ist tot, egal, wie es dazu kommt.« Sie klopft dreimal und wartet. »Ich muss dich warnen: Dr. Carburi ist ein brillanter Mann, aber recht theatralisch veranlagt. Wir werden sehen, was er heute auf Lager hat.«
***
Als wir den Seminarraum erreichen, ist Dr. Carburi gerade im Gehen begriffen. »Haben Sie unsere Verabredung vergessen?«, fragt Signora Baglioni mit ärgerlicher Stimme, während der Mann nach seinem Mantel und seiner Tasche greift.
»Nicht im Mindesten, Signora«, sagt er leichthin und schließt hinter sich ab. »Ich möchte gerne, dass Sie und Ihr junger Freund – Weed, nicht wahr? Ein merkwürdiger Name – nun, dass Sie mich begleiten. Wir können uns auf dem Weg unterhalten. Aber beeilen Sie sich, ich habe nicht viel Zeit.«
»Wohin gehen wir?«, frage ich, während er uns tiefer in den Palazzo hineinführt.
»Zum Anatomie-Saal«, antwortet er mit zufriedener Stimme und wendet sich einem weiteren Gang in diesem Labyrinth aus Gängen zu. »Heute seziert Professor Scarpa. Das darf man nicht verpassen!« Signora Baglioni schaut ungeduldig drein, aber entweder bemerkt es Dr. Carburi nicht oder es ist ihm gleichgültig. »Sind Sie zum ersten Mal in einem Anatomie-Saal?«, fragt er mich. »Was für eine phantastische Gelegenheit für Sie! Die Neuen sollten sich eigentlich an die unterste Ebene halten. Um den Blickwinkel der Leiche einzunehmen, sozusagen. Aber ich schaue mir das Ganze am liebsten vom obersten Rang aus an.«
Er öffnet die Tür. Der Saal ist eher ein Theater. Er ist oval und hat sechs übereinanderliegende Ränge, die dicht bestuhlt sind. Unten, zu ebener Erde, befindet sich in der Mitte des Raums ein leerer Tisch.
Als ich mich umschaue, tritt hinter uns ein Musikanten-Trio ein. Dr. Carburi nickt grüßend. Mir flüstert er zu: »Scarpa besteht darauf, dass während seiner Sezierungen Musik gespielt wird. Er behauptet, das würde seine Hand vom Zittern abhalten.«
»Es gibt einen Grund für unser heutiges Treffen«, mischt sich Signora Baglioni ein. »Und zwar eine Angelegenheit von großer Bedeutung.«
»Mithridat, ja«, erwidert Dr. Carburi lässig, als ob er es gerade selbst erwähnen wollte. »Ich habe drei unterschiedliche Zusammensetzungen entwickelt, die alle vielversprechend sind. Das Schwierige ist natürlich die Erprobung, denn ich bin nicht so
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