Die Poison Diaries
Bäume diktiert, ist etwas ganz anderes. Du hast die Welt in all ihrer Vielfalt erlebt, von Anfang an, aber der Rest von uns …«
Sie verstummt und später sehe ich sie reglos vor ihren Topfpflanzen stehen. Vielleicht lauscht sie. Dann schüttelt sie ratlos den Kopf.
Ich wohne in ihrem kleinen Gästezimmer und arbeite für Kost und Logis im Garten. Mittlerweile gehört es zu meinen Aufgaben, die betrunkenen Medizinstudenten bei Tagesanbruch aufzulesen und vor die Tür zu setzen. Und ich glaube – und hoffe –, dass es mir langsam gelingt, das Vertrauen der Pflanzen des
Orto botanico
zu gewinnen.
Jeden Tag flehe ich auf den Knien um Nachricht von Jessamine. Das Mädesüß preist meinen Mut, das Rosmarin beklagt meine Einsamkeit, die Schafgarbe drängt mich, Signora Baglioni stets zu gehorchen – aber keine einzige Pflanze will mir sagen, wo ich Jessamine finden kann.
»Das Böse hat sie in seinem Griff, aber ich weiß, dass ihr Herz rein ist«, sage ich zu ihnen. »Könnt ihr mir denn gar keine Nachricht geben? Ihr erkennt sie ganz leicht. Sie ist von der frischen Schönheit einer strahlenden Rose. Ihr Haar hat die Farbe von Weizen, der in der Sonne glänzt.«
Doch jeden Tag ist die Antwort die gleiche:
Wir können das Mädchen nicht finden, das du suchst.
»Warum nicht? Ist sie tot?«
Wenn sie tot wäre, wäre ihr Leib zur Erde zurückgekehrt, und die Pflanzen wüssten es.
Die Blätter rollen sich entschuldigend zusammen.
Wir können das Mädchen nicht finden, das du suchst.
Selbst diese noblen Pflanzen sprechen in Rätseln. Warum können sie Jessamine nicht finden? Fährt sie über ein lebloses Meer? Wandert sie über die Eiskappen an den Polen der Erde? Selbst in der trockensten Wüste wachsen Mesquitebäume und Kakteen. Es wird doch gewiss irgendeine Pflanze auf dieser Welt geben, die sie irgendwo gesehen hat.
Es ist, als ob Jessamine nicht mehr existieren würde.
***
Heute beginnt der Unterricht der Signora damit, dass sie mich anweist, meinen Mantel anzuziehen und ihr zu folgen. Ich werde mich hüten, ihre Anordnungen in Frage zu stellen. Ich gehorche unverzüglich, und gemeinsam marschieren wir zügig los.
Ich sehe, dass sie heute nicht ihre üblichen Hosen trägt, sondern einen langen Rock und Schuhe mit einem kleinen Absatz. »Wir besuchen einen meiner Kollegen in der Universität«, erklärt sie. »Sein Name ist Dr. Marco Carburi. Er ist ein berühmter Chemiker. Ich könnte mir vorstellen, dass wir seine Hilfe brauchen.«
»Aber ich habe die Rezeptur für jedes Gift und jedes Gegengift gelernt, die wir finden konnten.«
»Du hast gute Arbeit geleistet. Es gibt viele Gifte, bei denen das Gegengift bekannt ist. Sie alle sind in der Bibliothek der Universität dokumentiert, und dank des
Orto botanico
haben wir Zugang zu fast jeder Pflanze, die für die Zubereitung nötig ist. Aber … hier entlang, bitte, und nicht trödeln! – Aber wir wissen nicht, welches Gift Oleander benutzen wird. Oder welche Kombination von Giften.« Sie bleibt stehen. »Weed, hast du schon jemals von einer Substanz mit dem Namen Mithridat gehört?«
»Nein.«
Sie geht weiter und beschleunigt ihre Schritte noch. »Sie ist nach Mithridates, dem König von Pontos, benannt. Er herrschte vor fast zweitausend Jahren am Schwarzen Meer. Jeder König fürchtet Attentate, aber Mithridates hatte eine maßlose Angst vor Gift, denn es ging das Gerücht, dass seine eigene Mutter seinen Vater vergiftet hatte, um selbst an die Macht zu kommen. Von frühester Kindheit an nahm er jeden Tag geringste Mengen der schlimmsten Gifte ein, um allmählich immun dagegen zu werden.«
Der Gedanke, sich selbst freiwillig Gift zu verabreichen, lässt mich beinahe würgen.
»Aber das genügte dem ängstlichen König nicht«, fährt die Signora fort, während wir die schmale, mit Pflastersteinen belegte Straße überqueren. »Er entwickelte auch eine Mixtur, von der er behauptete, dass sie ein universales Gegenmittel für alle Gifte sei, eine komplexe Mischung aus Dutzenden von Zutaten. Dieses Gegenmittel, das jedes Gift wirkungslos machen konnte, nennt man Mithridat.«
»Das wäre eine Substanz von unschätzbarem Wert«, sage ich und denke wieder einmal an Thomas Luxton.
»In der Tat. Nach dem Tod des Königs stahl der römische Feldherr Pompeius die Notizen mit der Rezeptur des Mithridats, damit seine eigenen Ärzte versuchen konnten, es zuzubereiten. Über die Jahrhunderte gelangten viele verschiedene Versionen der Formel in Umlauf.
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