Die Portugiesische Reise (German Edition)
es vor, als stiege er die Siegestreppe hinab wie Radamés nach der Schlacht gegen die Äthiopier. Hier unten verläuft die Uferstraße Ribeira. Der Reisende geht unter dem Torbogen der Travessa dos Canastreiros hindurch, der im Sommer wertvollen Schatten spendet, jetzt aber ein eisiger Tunnel ist, und läuft den halben Vormittag durch das Bairro do Barredo, wo er ein für alle Mal lernt, was eine feuchte, klebrige Straße, der Geruch von Müll und dunkle Hauseingänge sind. Er wagt es nicht, jemanden anzusprechen. Über der Schulter hängt die Kamera, die er nicht ein einziges Mal benutzt. Im Rücken spürt er die Blicke derer, die ihn vorbeigehen sehen, oder vielleicht bildet er es sich auch nur ein, und es ist jemand in ihm selbst, der ihn neugierig anschaut. Als die Straßen ein bisschen breiter werden, schaut der Reisende hinauf zu den oberen Stockwerken. Er ist jetzt nicht mehr Radamés, sondern ein Gelehrter, der sich Gedanken über die Größe der Fenster macht, die in dieser Stadt dicht an dicht liegen und die gesamte Fassade der Häuser bedecken. Weiter oben in der Rua Escura, die ganz im Gegensatz zur Bedeutung ihres Namens viel heller wird, als sie in eine Treppe zum Platz vor der Kathedrale übergeht, gibt es einen Wochenmarkt. Gut, dass Früchte und Gemüse es bis hierher geschafft haben, und in diesem Falle auch gut, dass Plastikfabrikanten eine Vorliebe für lebendige Farben haben. Die Rua Escura ist ein Stück Regenbogen, aus allen Fenstern hängt Wäsche zum Trocknen.
Der Reisende hat sich vorgenommen, nicht von Kirche zu Kirche zu pilgern, als hinge sein Seelenheil davon ab. Er will zur Igreja de São Francisco, obwohl er sich regelmäßig u252 über die barocken Schnitzereien beschwert, aber diese Kirche verfolgt ihn, seit er in Portugal ist. In São Francisco ist alles über und über in Gold gearbeitet. Der Reisende ist keine Autorität auf diesem Gebiet, aber er hat einen Blick für diese herrliche Pracht, in der nicht ein Quadratzentimeter nackter Stein mehr zu sehen ist, er ist berauscht von diesem wundervollen Schauspiel, dies ist wohl das beste vergoldete Schnitzwerk im ganzen Land. Er kann sich nicht erinnern, ob jemand anders das schon einmal gesagt hat: Wenn man hier eintritt, gibt es nur eins, man muss sich dem voll und ganz hingeben. Aber der Reisende würde doch gern eines Tages erfahren, was für Mauern sich hinter diesem Prunk verstecken, welch wohlverdienter Stein zu ewiger Blindheit verdammt wurde.
Er dreht seine Runde, stört sich erst am veristischen Sadismus des Altars der heiligen Märtyrer von Marokko und erfreut sich dann an den genealogischen Verzweigungen des Baumes Jesse, einer gekünstelten, theatralischen Skulptur, die an einen Opernchor erinnert. Einer von Christi Vorfahren, eine kleine Palastfigur aus dem 17. Jahrhundert, trug tatsächlich geschlitzte kurze Hosen. Der Reisende, der den schlafenden Patriarchen Jesse betrachtet, sieht natürlich etwas Phallisches in diesem Stamm, der ihm aus dem Körper wächst und schließlich zu Jesus Christus wird, der immerhin ohne den Makel der Fleischlichkeit geboren wurde. Der Reisende steht mitten in der Kirche und hat das Gefühl, unter allem Gold der Welt begraben zu sein. Er braucht frische Luft, und die Frau mit dem Schlüssel zeigt angesichts dieses Anfalls von akuter Klaustrophobie Verständnis und öffnet die Tür. Während der Reisende geht, rollt ein weiterer Kopf der Märtyrer von Marokko. Gleich um die Ecke hinter ein paar Eisengittern befindet sich die Börse. Der Reisende meditiert ein bisschen über die Probleme dieser Welt, deren es so viele gibt, dass es nicht einmal möglich war, die armen Enthaupteten in barer Münze freizukaufen.
Von dort aus geht es weiter Richtung Hauptstraßen, durch schiefe Gassen und über verschlungene Stiegen. Porto ist, um seinen Namen einmal wirklich zu würdigen, zuallererst dieser weite, zum Fluss hin offene Schoß, den man aber nur vom Fluss aus sieht, es sei denn, der Reisende lehnt sich durch die von Mauern eingeschlossenen schmalen Öffnungen ins Freie und gibt sich dem Eindruck hin, Porto bestehe nur noch aus der Ribeira. Der Hang ist ganz und gar mit Häusern bedeckt, die wiederum den Verlauf der Straßen bestimmen, und da der gesamte Boden Granit auf Granit ist, meint der Reisende über Gebirgspfade zu laufen. Aber der Fluss reicht bis hier oben. Die Bevölkerung lebt nicht vom Fischfang, von der Dom-Luis-Brücke bis zur Brücke von Arrábida wird kein einziges Netz
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