Die Praktikantin
sehen.«
»Aber es lag doch vor der Tür.«
»Das schon, aber …«
»Haben Sie eine Erklärung dafür? Warum legt eine Mutter ihr Neugeborenes vor die Tür einer Lokalredaktion?«
Ja, warum? Vielleicht war sie Abonnentin. Vielleicht hatte sie sich in der Tür geirrt. Vielleicht wollte sie das Kleine auf die Titelseite bringen. Letzteres war ihr auf jeden Fall gelungen.
|154| »Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Und ich kann auch nicht verstehen, was eine Mutter dazu treibt, ihr Kind auszusetzen. So verzweifelt kann man doch nicht sein.«
Vor allem nicht in einer Stadt, in der es für jede noch so kleine soziale Schwäche einen eigenen Betreuungs- und Fürsorgeverein gab. Und wenn gar nichts mehr ging, half immer noch die Freiwillige Feuerwehr.
»Wie werden Sie darüber berichten?«
Ich hatte noch gar keine Zeit gehabt, mir darüber Gedanken zu machen.
»Wir werden den Fall sicherlich auf zwei oder drei Seiten schildern. Und natürlich alle Menschen der Stadt auffordern, uns bei der Suche nach der Mutter zu unterstützen.«
Tatsächlich kam ich erst gegen 15 Uhr dazu, meine eigene Zeitung zu planen. Bis dahin hatte ich gut zehn Interviews gegeben, aber von Elisabeth nicht mehr als eine kurze SMS erhalten: »Brin gen Henri jetzt zur Beobachtung ins Krankenhaus. Komme dann in die Redaktion.« Hatte sie den Namen herausgefunden? Oder hatte sie dem Kleinen einfach einen gegeben? Ich wusste gar nichts, außer dass wir die gesamte Titelseite für den Fall ausgeben würden. Und dass wir doppelt so viele Exemplare drucken müssten wie sonst.
Das hatte Professor Michelsen höchstselbst angeordnet. Zum ersten Mal seit meinem Wechsel hatte er in der Redaktion angerufen.
»Michelsen hier. Mensch, Walder, Sie sind ja auf jedem Fernsehsender.«
»Ich …«
»Nicht, dass Sie am Sonntag noch bei Anne Will sitzen.« Der Professor lachte. Unfassbar. »Aber für die Auflage ist die Geschichte natürlich Gold wert. Ich hoffe, Sie haben schon in der Druckerei Bescheid gesagt. Ich würde mindestens verdoppeln.«
Auch daran hatte ich nicht gedacht.
»Meinen Sie?«
|155| »Walder, mit dem Thema können Sie in drei, vier Tagen mehr Zeitungen verkaufen als sonst in zwei Wochen. Morgen die Geschichte mit dem Neugeborenen vor der Redaktion, übermorgen die große Suchaktion nach der Mutter, dann Spendenaufrufe, Lichterketten, Schuldzuweisungen der Politiker, Interview mit dem Vater. Das volle Programm. Wie viele Leute haben Sie eigentlich darauf angesetzt?«
Eine freie Mitarbeiterin … – »Irgendwie sind alle mit dem Thema beschäftigt.« – Irgendwie war ja Elisabeth in dieser Redaktion auch alles für mich.
»So muss das sein. Na, ich sehe Sie ja später im Fernsehen.«
Die Minutenschallmauer.
Immerhin konnte ich Lenz noch davon überzeugen, ein Interview mit einer Psychologin, der Frau seines Nachbarn, zu machen. Batz hatte Stimmen aus sämtlichen (rechten) politischen Lagern gesammelt und eine große Geschichte über die Unfähigkeit grüner Familienpolitik zusammengeschrieben. Die anderen Praktikanten, wir hatten, ohne dass es mir richtig aufgefallen war, vier gleichzeitig, waren noch unterwegs, um Reaktionen aus der Stadt einzufangen.
Die wichtigste Autorin kam erst gegen 16 Uhr 30.
»Elisabeth, jetzt müssen Sie sich aber echt beeilen. Ich habe fast sechshundert Zeilen von Ihnen für morgen eingeplant.«
»Ich fange gleich an, Herr Walder. Die Geschichte erzählt sich doch fast von selbst.«
So sind sie. Eben noch die kleine Praktikantin, die verzweifelt versucht, das gute Wort »sagte« nur ein Mal pro Text zu gebrauchen und dafür die deutsche Sprache mit synonymischen Textmonstern wie »analysierte sie mit einem Lächeln«, »erklärte er trotzig« oder »schloss er messerscharf« vergewaltigt. Jetzt schon die erfahrene Reporterin, für die der Fund eines Kleinkindes auf den Stufen der Redaktion so alltäglich ist wie für einen Schaffner der Deutschen Bahn die Beschwerden über verspätete Züge.
|156|
Es war kurz nach sieben. Eigentlich wollte ich nur meine Digitalkamera aus der Redaktion holen. Ich hatte sie am Abend zuvor dort vergessen, brauchte sie jetzt aber für einen Termin im Rathaus. Schnell sollte es gehen, deshalb achtete ich nicht auf meine Schritte. Erst als mein rechter Fuß auf der letzten Treppenstufe gegen etwas Hartes stieß, schaute ich nach unten. Dann war an diesem Tag nichts mehr so, wie es hätte sein sollen.
Für den Einstieg brauchte Elisabeth knapp fünf Minuten. Für den
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