Die Praktikantin
Boulevardzeitungen gelesen?«
»Nein, ich bin auch gerade erst …«
Er unterbrach mich. »Ich habe mir gestern an der Tankstelle die Nachtausgaben besorgt. Die einen nennen Sie den Redaktionsengel, die anderen die schöne Retterin. Ich zitiere.«
Ich hörte leise das Knistern einer Zeitung.
»Ein uralter, abgewetzter Korb, stehen gelassen vor den Treppenstufen einer Zeitungsredaktion. Eine schlanke, junge Frau, die einfach nur ihre Arbeit machen will. Das sind die Zutaten der verrücktesten und erschütterndsten Geschichte, die das kleine Städtchen Wützen jemals erlebt hat. Das Baby und die Praktikantin! Ein dünner Schicksalsfaden verband die beiden gestern Morgen für immer miteinander. Den kleinen armen Jungen, den alle Henri nennen, und seine schöne Retterin. Zitat Ende.«
»Woher wollen die wissen, ob ich schön bin?«
»Eine hässliche Retterin hätte halt nicht zu der schönen Geschichte gepasst«, sagte Walder. Er hatte seinen normalen Sprachrhythmus wiedergefunden. Nur während des Vorlesens hatte er einmal irgendetwas die Nase hochgezogen. »Außerdem sind Sie ja nun wirklich nicht hässlich. Ich meine …«
Na, da war ich gespannt.
|167| »Ich meine, es steht mir selbstverständlich nicht zu, das als Ihr ehemaliger und vorübergehender Chef zu beurteilen, aber ganz objektiv sind Sie nun wirklich eine attraktive …«
»Ja?«
»Also, wahrscheinlich haben die Kollegen Sie einfach gegoogelt und ein Bild von Ihnen auf
Facebook
oder
stayfriends
gefunden. Oder sie haben einen der Redakteure gefragt. Aber deswegen haben Sie nicht angerufen.«
»Nein, deswegen nicht.«
Wenig später stellte ich fest, dass das einzige Foto, das man von mir im Netz fand, ausgerechnet jenes im Bademantel aus dem
Badischen Kurier
war. Hoffentlich würde es nicht nächste Woche das Titelbild der
Bunten
werden.
»Ich habe vielleicht eine Idee, wer die Mutter sein könnte, Herr Walder.«
»Und das sagen Sie erst jetzt?«
Ich erzählte ihm die Geschichte von Oma und der Kleiderkammerkladde und dass ich sofort in den Birkenweg fahren würde. Von dem Traum und Miss Marple und der Magnumflasche Sambuca erzählte ich ihm nichts.
»Wollen Sie nicht vorher in die Geburtsklinik, um die Daten zu checken?«, fragte Walder.
»Das kann ich immer noch. Ich kann in zehn Minuten im Birkenweg sein. Wenn diese Hanna Giese dort wohnt, klingle ich einfach und sage, dass ich ihr Baby gefunden habe. Und dass ich gern mit ihr reden würde. Wann sind Sie in der Redaktion?«
»So schnell es geht«, sagte Walder. »Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
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|168| FÜNFUNDZWANZIG
Das Interview mit
Inforadio
hatte fünf Minuten gedauert. Am Ende traute ich mich zu behaupten, dass wir bereits eine erste heiße Spur im Fall des kleinen Henri hatten, ich mehr aber noch nicht darüber sagen könnte.
»Alles Weitere wird man dann morgen in der Wützener Zeitung lesen?«, fragte der Radiomensch.
»Genau«, sagte ich und bezweifelte, dass diese Art der Werbung unserer Auflage irgendetwas bringen würde. Denn die
Wützener Zeitung
gab es nur in Wützen und in ein paar Nachbardörfern. Ein Exemplar wurde jeden Tag zusammen mit anderen Produkten des Verlags an den Kölner Hauptbahnhof geliefert. Dort hatten wir im vergangenen Jahr genau zwei Stück verkauft.
»Das war der Chefredakteur der Wützener Zeitung, Johann Walder. Lieber Herr Walder, wir danken Ihnen für das Gespräch und wünschen Ihnen und der ganzen Stadt Wützen viel Glück bei der Suche nach der Mutter des kleinen Henri.«
»Danke, das können wir gebrauchen«, sagte ich und merkte erst beim letzten Wort, dass die Verbindung längst unterbrochen war.
Als ich in die Redaktion kam, war Batz schon da. Er saß im Konferenzraum und sprach mit Christian Rupprecht, dem CDU-Bundestagsabgeordneten unseres Wahlkreises. Er winkte mir durch die halb offene Tür zu und war bester Laune. Die Glatze glänzte.
»Morgen, Herr Walder. Ich rede gerade mit Herrn Rupprecht über die Pläne der CDU, jetzt endlich eine Babyklappe in der Stadt zu installieren.«
»Wenn schon Neugeborene vor der Tür einer Zeitungsredaktion |169| ausgesetzt werden, ist es höchste Zeit dafür«, sagte der Politiker. »Finden Sie nicht auch, Herr Walder?«
Batz ließ mir keine Chance, zu antworten.
»Wir sollten das Thema groß auf Seite drei spielen. Ich könnte auch einen Kommentar dazu schreiben. Die GAL hat bei der Frage nach einer Babyklappe viel zu lange gezögert. Allen voran der Bürgermeister. Aber der
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