Die Priestertochter: Historischer Roman (German Edition)
ihn gefressen haben, oder er hatte sich irgendwo das Genick gebrochen. Sonst wäre er längst hier aufgetaucht.
»Aber damit«, flüsterte er. »Wie sollte ich damit rechnen? Daß er sich verbirgt, zwanzig lange Jahre, und dann plötzlich erscheint, lebendig!« War er bei den Franken gewesen all die Zeit? Steckte vielleicht er hinter dem Feldzug des Bischofs? Nein, er würde nicht mit einem Christen zusammenarbeiten. Nicht er.
War er ein Wiedergänger? Einer, der Rache suchte für das Unrecht, das man ihm zugefügt hatte? Unmöglich. Die Totenwelt würde es nicht wagen, einen Priester auszuspeien.
Die Obodriten hatten sie gefangengenommen. Das war gut. Die Franken waren sicher längst tot, und er mit ihnen. Nevopor stellte sich die Köpfe auf den Palisaden vor, Grimassen, darüber schweißnasse Haare, die an der Stirn klebten. Zehn Köpfe auf den Pfählen am Tor Zwerins. Und gleich am Tor
sein
Kopf.
Nicht Uvelan, wisperte eine tonlose Stimme in ihm. Uvelan war entkommen. Er würde Rethra erreichen. Svarogh wollte sich rächen.
»Svarogh!« brüllte Nevopor. Er schlug die Hand gegen die hölzerne Torwand und zog sie langsam daran herunter. Splitter stachen durch seine Haut, bohrten sich ins Fleisch. Er spürte seine Wangen zucken. Endlich zog er die Hand zurück. Der Schmerz tat ihm gut; er war heiß und hell, er loderte, war Licht, Rettung.
Ein dunkler Tropfen rann die Hand hinab. Nevopor hob sie zum Mund und leckte ihn auf. Sein Blut. Uvelan würde es nicht bekommen. Einen nach dem anderen zog er sich die langen Splitter aus dem Fleisch.
Immer noch waren die Knie weich wie Seife. Kaum konnte Nevopor laufen. Aber er trat durch das Tor und kletterte den Hang zum Seeufer hinunter. »Du bist der erste, der büßt, Donik«, murmelte er. »Und als nächstes wird Uvelan sterben. Von meiner Hand! Viel zu lange hat er sein Unwesen getrieben auf dem Gesicht der Erde.«
Der Kopf des jungen Linonen hing zur Seite. Nur die Seile hielten ihn noch aufrecht, das war deutlich. Daß er nicht an den Seilen erstickte! Er sollte verdursten. Der Lucinsee lag ruhig und blank wie ein Spiegel. Diesen See konnte Donik sehen, Tag und Nacht. Mehr Wasser, als ein Mensch in seinem Leben trinken konnte. Und er bekam nichts davon. Nevopor lächelte. Uvelan würde noch schlimmer sterben.
Er lief um den Pfahl herum und besah sich den jungen Mann. Die Haut im Gesicht und an den Händen hatte sich blau verfärbt. Nevopor schlug ihn ins Gesicht, daß die schwarzen Haare flogen. Sie glänzten nicht mehr. Stumpf sahen sie aus. »Wach auf, Hund!«
Mühsam richtete Donik den Kopf auf. Die Augenlider flatterten. Es war offensichtlich, daß er etwas sagen wollte. Die gesprungenen Lippen öffneten und schlossen sich, aber die Zunge schien am Gaumen oder an den Zähnen zu kleben, und so kam nicht mehr als ein tierhaftes Stöhnen aus seinem Mund.
Die Haut! Sie schloß sich enger um seinen Schädel. Er dörrte langsam aus. In tiefen Höhlen lagen die Augen. Die Schädelknochen stachen breit hervor. »Verräter! Ich weiß jetzt, was du treibst. Du hast diese Burg, den Stolz des Slawenlandes, für meinen Widersacher ausspioniert. So ist es doch?«
Ein Fisch schnappte irgendwo in der Nähe nach einem Insekt. Das Platschen auf der Wasseroberfläche hallte an den Burgpalisaden wider.
Ein leises Knacken. Doniks Zunge hatte sich gelöst. »Meine … meine Ohren schmerzen«, sagte er. »Der Kopf wächst. Die Haut wird bald reißen. Er ist … groß … zu groß geworden.« Die Stimme des Linonen brach fortwährend, sprang von tonlosem Ächzen zu hohen Kinderlauten und wieder herab zur Tonlage eines Mannes.
»Was redest du für einen Unsinn! Es ist nicht der Kopf, der wächst, es ist die Haut, die schrumpft.«
Donik schluckte. Er schluckte sechsmal, siebenmal. Wieder und wieder schluckte er, in schneller Folge. Nevopor sah den dicken Knorpel im Hals hinauf- und hinunterrutschen. Dann ein trockenes Husten.
»Da ist nichts zum Schlucken. Spar dir deine Kraft.«
»Ich will nicht so … so dicht am Feuer sitzen, Mutter.«
»Ich bin nicht deine Mutter. Und du sitzt auch nicht am Feuer.« Nevopor fühlte endlich wieder Kraft in sich. Errichtete sich auf, straffte die Schultern. Es würde allen seinen Feinden ergehen wie Donik. Er hatte die Macht, er, Nevopor, und niemand sonst. Es bestand keine Gefahr. »Soll ich dir etwas sagen? Ich weiß, was du getan hast. Es geht um Uvelan, nicht wahr?«
»Der … Priester.«
Tatsächlich. Er kannte ihn. Das Wort
Weitere Kostenlose Bücher