Die Principessa
fragte Francesco zurück. »Nein, Principessa, die Architektur ist wie das Leben, ein Werden und Vergehen. Das Alte muss sterben, damit auf seinem Grund Neues entstehen kann.«
»Aber die Kapelle ist Berninis schönstes Jugendwerk. Die ganze Begeisterung des jungen Mannes ist darin zu spüren. Muss man nicht alles tun, dies zu erhalten? Aus Respekt vor dem Schöpfer und Künstler? Denken Sie an Ihr Oratorium, das man abreißen will.«
Francesco schüttelte den Kopf. »Auch wenn es für den betroffenen Architekten noch so schmerzlich ist – einen solchen Respekt darf es nicht geben. Die Baukunst selbst verbietet es. Sie verlangt nur den Respekt vor dem Werk. Hat dieses ein Recht auf Fortbestand oder muss etwas Neues entstehen?«
»Das heißt, das Werk zählt mehr als der Mensch?«
»In der Baukunst – ja! Es liegt in ihrem ureigenen Wesen. Weil, sie ist nicht eine Kunst neben anderen Künsten – sie ist die Summe aller Künste. Keine Kirche, kein Palast ist das Werk eines einzelnen Schöpfers. Damit ein Bauwerk entsteht, müssen unendlich viele und unterschiedliche Menschen zusammenwirken. Architekten und Zeichner, Steinmetze und Zimmerleute, Bildhauer und Maler, Dachdecker und Maurer – sie alle tragen zu seiner Entstehung bei, in einer gemeinsamen, großen Anstrengung. Durch dieses Zusammenwirken aber entsteht nicht nur ein neues Gebäude, sondern die Baukunst erfährt dadurch immer wieder ihre eigene Wiedergeburt, in jedem Gebäude, um sich zu vervollkommnen und gleichzeitig zu erneuern.«
Clarissa dachte eine Weile nach, um den Sinn seiner Worte zu begreifen. »Sie meinen«, sagte sie schließlich, »so wie die Schöpfung selbst, die sich durch uns Menschen immer wieder erneuert und vervollkommnet?«
»So habe ich es noch nie betrachtet«, sagte Francesco, und eine leichte Röte huschte über sein Gesicht, »aber Sie haben Recht, man kann es tatsächlich so ausdrücken – eine Wiedergeburt der Schöpfung. Denn in jedem Bauwerk, das diesen Namen verdient, waltet die Natur selbst mit ihren ewig gültigen Gesetzen, das in Jahrhunderten und Jahrtausenden gewachsene Wissen der Menschheit, die Antike mit ihrem unfehlbaren Gespür für Erhabenheit und Proportionen ebenso wie die Erkenntnisse derGegenwart, die Baukunst aller Länder und Zeiten, von den Schöpfern der sieben Weltwunder bis zu Michelangelo. Sie alle sind die Lehrer eines jeden wirklichen Architekten, um in ihm für immer weiterzuleben. Nein, Principessa«, wiederholte er noch einmal, »hier geht es nicht um Bernini und mich, nicht um seine oder meine Empfindungen – hier geht es allein um die Baukunst selbst. Aber verzeihen Sie«, unterbrach er sich plötzlich mit einem verlegenen Lächeln, »ich rede und rede wie ein Magister der Sapienza, dabei waren wir doch gekommen, um uns die Pläne anzuschauen.«
Er wollte nach den Entwürfen greifen, die vor ihnen auf einem Tisch ausgebreitet lagen, doch Clarissa legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Wissen Sie eigentlich, was für ein glücklicher Mensch Sie sind, Signor Borromini?«
Als sie die Propaganda Fide verließen, war der Himmel in ein zartes Abendrot getaucht. Auf der Piazza spielten ein paar Kinder unter den Augen ihrer Mütter und Großmütter, die nach der Tagesarbeit den milden Frühlingsabend genossen.
»Darf ich mich hier von Ihnen verabschieden?«, fragte Francesco. »Ich muss meinen Maurern noch Anweisungen für ihre Arbeit morgen geben.«
Als Clarissa in ihre Kutsche stieg, fiel ihr Blick auf Berninis Haus auf der anderen Seite des Platzes. Über dem Tor ragte ein Vorsprung aus der Wand, den sie dort noch nie gesehen hatte, ein mannsgroßes Rohr, das bedrohlich auf die Propaganda Fide, Borrominis Baustelle, gerichtet war. Zwei Arbeiter standen darunter, bogen sich vor Lachen und zeigten abwechselnd auf das Monstrum über ihren Köpfen und die Propaganda Fide, dem Ziel dieses Spottwerks. Von dem Anblick peinlich berührt, schlug Clarissa die Augen nieder, doch als ihr Gefährt an Berninis Palazzo vorüberrollte, musste sie gegen ihren Willen ein zweites Mal hinsehen.
Was dort so bedrohlich aus der Mauer ragte, war ein riesiger marmorner Phallus.
21
Nacht lag über der Ewigen Stadt und umfing sie mit ihrem schwarzen Schweigen. Einsam im sanften Schein einer Öllampe saß Clarissa am Schreibtisch und las noch einmal ihre Notizen. Seit Monaten verbrachte sie die Abendstunden damit, die Gedanken aufzuzeichnen, die sie bei Tage mit Francesco austauschte, und alle seine Entwürfe und
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