Die Prinzen Von Irland
Zeit
stammte. Zwei Jahrhunderte zuvor war Keils als Zufluchtsort für einige der
Mönche aus der Gemeinde von Iona gegründet worden, nachdem das Kloster auf der
kleinen Insel von Wikingern angegriffen worden war. Einige der Illustrationen
waren unvollendet; also war das berühmte Buch vielleicht auf Iona begonnen und
seine Vollendung durch den Einfall der Wikinger unterbrochen worden.
»Ich habe dich die
ganze Zeit beobachtet, verstehst du.«
»Ihr habt mich
beobachtet?« Während der zwei Monate, die er hier verbrachte, hatte der Hüter
des Scriptoriums außer dem unbedingt Notwendigen kaum ein Wort an ihn
gerichtet, und als der Mönch ihn ein, zwei Mal streng angesehen hatte, hatte
Osgar gedacht, dass der alte Mann ihn offenbar nicht leiden konnte.
»Du bist ein
Gelehrter«, sagte der Hüter des Scriptoriums jetzt. »Das sehe ich. Sowie ich
dich erblickte, hab ich mir gesagt: Das ist mal ein echter Gelehrter von unsrer
eignen insularen Spezies.«
»Danke«, sagte Osgar.
Schon seit seiner Kindheit, seit ihm sein Onkel Vorträge über dieses Thema
gehalten hatte, empfand er großen Stolz auf die Leistungen seiner Landsleute.
Da weite Teile der Welt von Barbaren besetzt worden waren, hatten sich die missionierenden
Mönche von der westlichen Insel in die alten keltischen Gegenden des
zerfallenen römischen Imperiums hinausbegeben, um der christlichen Zivilisation
neue Geltung zu verschaffen. Von Colum Cilles Kloster Iona aus hatten sie
weitere bedeutende Zentren wie das große Kloster Lindisfarne im Westen
aufgebaut und den nördlichen Teil von England weitgehend zum Christentum
bekehrt. Andere Mönche waren nach Gallien, Germanien, Burgund und sogar über
die Alpen nach Norditalien gezogen. Schon bald waren den Gründern der Klöster
in beachtlicher Anzahl keltische Pilger gefolgt, die auf den Pilgerstraßen, die
nach Rom führten, gen Süden zogen. So hatte die keltische Kirche nicht nur die
Fackel der Wahrheit zurückgebracht, sondern war auch zu einer der wichtigsten
Hüterinnen der antiken Literatur geworden.
Nur eines bedauerte
Osgar: Die Mönche der Insel hatten die alte druidische Tonsur aufgegeben. Zwei
Jahrhunderte nach Sankt Patrick hatte der Papst darauf bestanden, dass alle
Mönche der Christenheit sich nach römischer Art nur auf dem Scheitel eine runde
Stelle kahl scheren sollten, und nach einigem Protest hatte sich auch die
keltische Kirche dieser Anordnung gefügt. »Aber darunter sind wir immer noch
Druiden«, pflegte Osgar zu sagen, und dies nur halb im Scherz.
»Und morgen wirst du
uns also verlassen?«, fragte ihn der alte Mönch.
»Ja, das werde ich.«
»Und das, wo überall
große Unruhe herrscht.« Der Alte tat einen Seufzer. »Bald wird’s in ganz
Leinster nur so wimmeln von Brian Borus Leuten, und nur Gott weiß, was die im
Schilde führen. Du solltest lieber noch eine Weile hier bleiben. Warte, bis die
Lage sicher ist.«
Osgar erklärte ihm
die Sache mit Schwester Martha, aber der Alte schüttelte den Kopf. »Es ist
schlimm, dass ein Gelehrter wie du sich in der Welt rumtreibt, und das nur
wegen einer Nonne von Kildare.« Damit drehte er sich um und schlurfte davon.
Nach wenigen Augenblicken kehrte er zurück. Er hatte ein Stück Pergament in der
Hand, legte es vor Osgar auf den Tisch und sagte: »Sieh dir das mal an.«
Es war eine
Zeichnung, ausgeführt mit schwarzer Tinte: ein Kleeblatt aus drei lose
verbundenen Spiralen, das ihn ein wenig an die Kleeblattmuster erinnerte, die
in manchen der berühmten Illuminationen zu sehen waren. Aber anders als diese,
in denen die Spiralen zu einer vollständigen geometrischen Struktur arrangiert
worden waren, schienen jene kreisenden Linien nach den Rändern hin
weiterzuwandern, als wären sie mitten in einer endlosen, noch unvollendeten
Bewegung festgehalten worden.
»Das hab ich
kopiert«, erklärte der Mönch voller Stolz.
»Wovon kopiert?«
»Von einem großen
Stein. Bei den alten Gräbern oberhalb des Boyne. Früher hab ich einen Ausflug
dorthin gemacht.« Befriedigt betrachtete er sein Werk. »Diese Muster sind darin
eingeritzt. Es ist eine exakte Kopie.«
Osgar studierte
weiter das Blatt. Die kreisenden Linien der Zeichnung schienen uralt zu sein.
»Hast du eine
Ahnung«, fragte der alte Mönch, »was sie bedeuten könnten?«
»Nein, leider nicht.«
»Niemand scheint es
zu wissen«, seufzte der Mönch, aber dann erstrahlte sein Gesicht, und er sagte:
»Und doch ist das Ganze kurios, findest du nicht?«
Das war es in der
Tat.
Weitere Kostenlose Bücher