Die Prinzen Von Irland
aber vor allem Mornas geistige Anlagen. Als er
zehn war, ließ Fergus ihn an seiner Seite sitzen, wann immer die Leute in
Rechtsangelegenheiten bei ihm vorsprachen. Nach ein paar Jahren wusste der
Junge fast genauso gut über die alten Brehon–Ge setze der Insel Bescheid wie er. Die vertrackteren Fälle genoss er besonders. Wenn
ein Mann eine einzelne Kuh verkaufte und diese einen Monat später ein Kalb
bekam, wem gehörte dann das Kalb – dem neuen oder dem alten Besitzer? Wenn ein
Mann eine Wassermühle baute, die von einem Fluss angetrieben wurde, der auf dem
Grund und Boden eines anderen entsprang, hatte dieser dann das Recht, die
Wassermühle gebührenfrei zu benutzen? Und der verzwickteste von allen: Wer war
innerhalb eines Zwillingspaars der Ältere: der Erstgeborene oder der Zweite? In
anderen Gegenden Europas war es der Erstgeborene, auf der westlichen Insel galt
dies dagegen nicht immer. »Wenn er hinter dem anderen aus dem Mutterleib
kommt«, so argumentierte Morna, »dann muss er als Erster drin gewesen sein.
Somit ist der Zweitgeborene der Ältere.«
Darauf wären seine
Söhne nie gekommen, dachte sich Fergus im Stillen. Wenn der Fall sie nicht
persönlich betraf, interessierten sie sich nicht dafür.
Überdies spielte
Morna wundervoll Harfe. Vor allem aber besaß er schon als junger Bursch die
Würde des alten Fergus, ja noch mehr, er hatte etwas Magisches, was die Leute
zu ihm hinzog. Er strahlte königliche Würde aus.
Wie viel sollte man
Morna von seinen königlichen Vorfahren erzählen? So wenig wie nur möglich,
meinte Deirdre, für die königliches Blut eher ein Fluch als ein Segen war.
»Aber ein wenig müssen
wir ihm schon verraten«, meinte Fergus.
»Dein Vater hatte von
der Seite seiner Mutter königliches Blut in den Adern«, eröffnete er dem
zehnjährigen Morna.
»Aber das hat ihm
nichts Gutes gebracht. Er hat das Missfallen des Hochkönigs erregt. Der König
war derjenige, der Finbarr ausschickte, um ihn zu töten.«
»Würde der Hochkönig
auch mich hassen?«, hatte der Junge gefragt.
»Vermutlich hat er
längst vergessen, dass du existierst«, entgegnete Fergus. »Hier in Dubh Linn
jedenfalls bist du ziemlich sicher.«
Was Deirdres Rolle in
dem Streit mit dem König und Conalls Opferung betraf, so befahl Fergus seinen
Söhnen und Gefolgsleuten unmissverständlich, diese Dinge in Gegenwart des
Jungen niemals zu erwähnen. Dazu hätte ohnehin kaum jemand eine Neigung
verspürt. Nach allgemeiner Übereinkunft ließ man am besten Gras über die Sache
wachsen. Eine sanfte, schützende Verschwörung des Schweigens, die niemand
aufbrechen wollte. Und wenn sich dennoch gelegentlich ein Reisender erkundigte,
was eigentlich aus Conalls Frau geworden war, so schien niemand auch nur von
ihr gehört zu haben.
So vergingen die
Jahre, und Deirdre lebte in Frieden. Ihre Stellung als weibliches Oberhaupt der
Familie war unbestritten, denn keiner ihrer Brüder hatte eine Frau. Und als in
jenem Sommer die Nachricht eintraf, dass der alte Hochkönig gestorben war,
hatte sie das Gefühl, nun wirklich frei zu sein: Die Vergangenheit konnte
begraben werden; Morna war in Sicherheit. Morna – die Zukunft.
* * *
Sie
hatte keine Ahnung, warum ihr Vater die Familie zusammengerufen hatte. Morna
war jedoch sofort vom Fluss zurückgekehrt, und die Brüder hatten die Weide
verlassen. Nun saßen sie alle in der Hütte und warteten, was er zu sagen hatte.
Fergus bot das Bild
eines stattlichen Greises, der gerade und aufrecht in einen Umhang gehüllt am
Feuer sitzt. Sein Gesicht war bleich und ausgezehrt, aber seine eingesunkenen
Augen hatten noch Kraft. Er hieß Morna an seine rechte und Deirdre an seine
linke Seite treten, während seine zwei Söhne ihm gegenüberstanden.
Der schwarzhaarige
Ronan war ein wenig größer als sein jüngerer Bruder, der braunes Haar hatte.
Ronans Gesichtszüge hatten den Stolz, nicht aber die Kraft, die sein Vater
ausstrahlte. Außerdem hatte er einen leichten Buckel über den Schultern
bekommen. Rian sah nur sanft und friedfertig aus.
Woher kam es, dass
keiner von ihnen in all den Jahren eine Frau gefunden hatte? Hatten sie es
überhaupt versucht? Eine Zeit lang war ein britisches Sklavenmädchen im Haus
gewesen. Ronan hatte sicher mit ihr geschlafen. Deirdre vermutete, dass auch
der sanft und friedfertig aussehende Rian das Lager mit der Britin geteilt
hatte. Sie hatte sogar ein Kind bekommen, aber es war sehr schnell gestorben.
Dann hatte das Mädchen zu kränkeln
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