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Die Probe (German Edition)

Die Probe (German Edition)

Titel: Die Probe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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gestreiften Hemd, der blauen Kapitänsmütze, die er tief in sein wettergegerbtes Gesicht gezogen hatte, erschien er ihm wie die Inkarnation seiner Idealvorstellung eines Bootsführers.
    »Verzeihen Sie, Senhores, wenn ich in ihre Unterhaltung hineinplatze. Ich konnte nicht überhören, dass der Herr hier einen Bootführer sucht.« Er wandte sich an den Hotelgast. »Ich bin Eduardo Monte. Ich glaube, ich habe, was Sie suchen.«
    »Sie sind Bootsführer?«, fragte Charlie freudig erregt.
    »Eher Fremdenführer, aber ich arbeite oft mit einem sehr zuverlässigen Bootsmann zusammen. Wir unternehmen regelmäßig individuelle Chartertouren.«
    »Sie schickt der Himmel«, seufzte Charlie und atmete auf. Auch der Concierge strahlte über beide Backen, als hätte er das Problem gelöst. Die beiden Männer setzten sich an eines der Glastischchen und Charlie erläuterte sein Vorhaben. Nach zwei Tassen Kaffee und einem Anruf Eduardos bei seinem Kumpel José, dem Bootsführer, waren sie sich einig. Per Handschlag wurde der Deal besiegelt. Sie hätten sofort losfahren können, doch in Charlies Ausrüstung fehlte noch der wichtigste Gegenstand. Da weite Teile des Landes meterhoch überflutet waren, durfte er nicht ohne Tauchausrüstung aufbrechen. Sein Training im Höhlentauchen auf den zahlreichen Expeditionen der Studienzeit lag zwar schon viele Jahre zurück, aber gelernt war gelernt.
    Er packte Anzug und Gasflaschen zusammen mit den wenigen persönlichen Habseligkeiten in ein Taxi und ließ sich zum Pier fahren. Unterwegs wurde ihm wieder bewusst, was ihn an dieser Stadt vom ersten Augenblick an gefesselt hatte. Bevor er hier eintraf, hatte er geglaubt, dieser Ort mitten im Dschungel des Amazonas wäre nichts weiter als eine Ansammlung einfacher Häuser und Hütten, ein großes Dorf am Fluss mit primitiver Infrastruktur. Was er antraf, war eine vibrierende, feuchtheiße Millionenstadt voller Gegensätze, wie es sie eigentlich gar nicht geben durfte. Entlang dem Flussufer hatte er tatsächlich hunderte schäbiger Holzhütten mit Blechdächern gesehen, in denen wohl die Ärmsten unter Bedingungen hausten, wie sie zur Zeit des Gummi-Booms kaum schlechter gewesen waren. Hier im Zentrum hingegen beherrschten die Glas- und Betonfassaden moderner Geschäftshäuser, sorgfältig restaurierte Gebäude aus der Kolonialzeit, bunte Ramschläden und breite, verkehrsreiche Strassen das Bild.
    Unweit des Piers sprangen kleine Kinder ins Wasser, laut kreischend und nackt, wie Gott sie geschaffen hatte. Die größeren Geschwister knieten und hockten daneben am Ufer, hielten Schnüre ins Wasser und warteten geduldig, bis etwas anbiss.
    »Piranhas, schmecken gut«, erklärte der Fahrer lachend. Charlie staunte:
    »Und die Kleinen? Haben die keine Angst?«
    »Não, Senhor. Angst haben nur die Fremden. In Wirklichkeit meiden diese Fische die Menschen. Sie halten sich lieber an die Hühnerbeine, die die meninos ins Wasser halten.«
    Das Boot war eine verkleinerte Ausgabe der Passagierboote, die hier regelmäßig anlegten. Der weiß gestrichene hölzerne Deckaufbau enthielt eine bescheidene Schlafkajüte mit intakten Moskitonetzen und eine kleine Aussichtsplattform über dem Steuerhaus; perfekt für eine kurze Suchexpedition. José, der Kapitän, schien ein mürrischer Eigenbrötler zu sein, der kaum ein Wort sprach. Auch O. K., solange er sein Handwerk beherrschte. Charlie lud seine Sachen aufs Boot und sie legten ab. Gemächlich, allzu gemächlich tuckerten sie den Amazonas hinauf. Auch Charlie verspürte kaum Lust, sich zu unterhalten, und je länger sie unterwegs waren, je näher sie der Stelle kamen, wo Ryan verschwunden war, desto einsilbiger wurde er.
    »Boto, backbord!«, rief Eduardo von oben und zeigte auf eine Stelle in der Mitte des Flusses. Charlie schreckte aus seinen trüben Gedanken auf. Durch das Fernglas sah er eine ganze Schule von Delfinen, die dem Boot zu folgen schienen. Das mussten die rosa Amazonasdelfine sein, die sie wohl mit Touristen verwechselten. Der schöne Anblick dieser friedlichen, eleganten Schwimmer erinnerte ihn sofort wieder an das Quecksilber und die anderen Gifte in der Nahrungskette, an deren Ende sie standen. Nicht nur die Menschen, auch die Tier- und Pflanzenwelt litten unter den verantwortungslosen Profiteuren, denen Ryan auf die Spur gekommen war. Dass hunderte wilder Goldwäscher dieses wundervolle Flusssystem mit ihren primitiven Methoden verseuchten, war schlimm genug, aber dass große Konzerne dieses

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