Die Probe (German Edition)
überlegen. »Er stand hinter mir und hat das Gleiche gesehen wie ich. Nur durch ihn kann Nakamura davon erfahren haben, denn ich habe niemandem davon erzählt.« Lauren blickte sie nachdenklich an.
»Aber wie – warum?«
»Keine Ahnung. Du kannst ihn ja fragen. Am besten morgen auf der Party, wenn er genügend Alkohol im Blut hat.«
»Party?«
»Hanami!« Sie hatte völlig vergessen, dass ihr Team am Samstag in Kioto die Kirschblüte feiern wollte.
»Ach du grüne Neune. Daran habe ich nicht mehr gedacht. Ich hoffe, ihr seid mir nicht böse, wenn ich nicht dabei bin. Ryan und alles, du weißt schon.« Renate nickte nur und ließ ihre Chefin allein.
Kioto
Die Prognosen im Fernsehen für dieses Wochenende waren vielversprechend: die Zierkirschen in Kioto standen in voller Blüte. Daisy kannte die Euphorie, die solche Nachrichten unter den Einheimischen auslösten, aus ihrer Zeit in Tokio, und sie freute sich auf diese Freiluftparty wie ein Kind auf die erste Schulreise. Beladen mit großen, blauen Planen, mehrstöckigen Bento-Boxen voll köstlicher Snacks und, ganz wichtig, ausreichend Sake, streiften sie durch den Park am Fuß des Kiyomizu-dera, des uralten Tempels der reinen Wasser. Die ganze Parklandschaft, die Alleen entlang des Kamo-Flusses und der Kanäle, Plätze und Hinterhöfe der einstigen Kaiserstadt versanken in einem wogenden Meer weißer und zartrosa Blüten. Wie tausende anderer schwatzender, lachender und eifrig knipsender Besucher breiteten sie ihre Decken auf einem freien Grasfleck aus und begannen am Ritual des alljährlichen Hanami teilzunehmen. Ein denkbar einfaches Ritual, das im wesentlichen daraus bestand, sich an der prächtigen Natur zu erfreuen, die nach dem kargen Winter nun buchstäblich zu neuem Leben erblühte. Amüsiert bemerkte Daisy die schmachtenden Blicke, die Tommy Renate zuwarf, während er seinen Charme zwischen zwei schon ordentlich fröhlichen Laborantinnen versprühte. Er konnte es offenbar nicht verwinden, dass sie ihm die kalte Schulter zeigte. Sie hatte sich dekorativ auf den Boden gebettet und benutzte Daisys Oberschenkel als Kopfkissen.
»Dein Verehrer beobachtet dich.«
»Was?« Sie setzte sich auf, um sich gleich wieder hinzulegen. »Ach der, soll sich mit seinen beiden Blüten vergnügen.«
»Du kannst ganz schön kratzbürstig sein, weißt du?«
»Ich bin mit einem großen Bruder aufgewachsen, da lernt man sich zu wehren.«
»Der arme Bruder«, lachte Daisy und kassierte einen leichten Klaps auf die Wange. Die Lautstärke des rundum lagernden Partyvolkes nahm allmählich zu, und die steifen Umgangsformen lockerten sich. Sogar Mai Yoshida, der stille Philosoph der Truppe, begann Witze zu erzählen. Kichis graues Gesicht hatte Farbe bekommen. Eifrig achtete er darauf, dass niemand auf dem Trockenen saß, am allerwenigsten er selbst. Blöd grinsend stolperte er beinahe über Renate, als er mit einer neuen Runde Bier vorbeikam.
»Aus dem kriegen wir wohl heute nichts mehr raus«, murmelte Renate verächtlich. Daisy schaute ihm gedankenverloren nach, dann sagte sie leise:
»Wohl nicht, aber hast du seine linke Hand gesehen?« Renate zuckte die Achseln.
»Keine Ahnung. Was meinst du?«
»Ziemlich kurzer kleiner Finger«, antwortete sie nachdenklich. Ächzend streckte sie sich. Ihre Glieder waren ganz steif vom stundenlangen Herumsitzen und Liegen. Zudem stand die Sonne schon tief und es wurde kühl.
»Bist du müde?«, fragte Renate und setzte sich auf.
»Vor allem könnte ich ein heißes Bad und eine Massage vertragen. Ich glaube, ich muss nach Hause.«
»Du hast recht, gehen wir. Ein heißes Bad täte auch mir gut.« Einige hatten die Party bereits verlassen, was ihnen erlaubte, aufzubrechen, ohne unhöflich zu sein. Der Shinkansen Schnellzug brachte sie in fünfzehn Minuten zur Station Shin-Osaka. Als sie den Wagen der Midosuji Linie betraten, fragte Daisy lachend:
»Kein Buch dabei heute?« Renate spitzte neckisch den Mund und schüttelte den Kopf.
»Nein – ich bin sowieso zu betrunken.«
»Das ist jammerschade. Ich schaue dir gerne beim Lesen zu.« Der Zug hielt an. Sie schaute auf die Anzeigetafel und erschrak: »Shinsaibashi, Mist! Ich hätte vorher umsteigen sollen!« Renate lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand und lachte.
»Ist doch kein Problem, dann kommst du einfach mit zu mir. Ist sicher noch ein Bier im Kühlschrank.« Daisy hätte sie auf der Stelle umarmen können.
»Ich habe eher an ein heißes Bad gedacht, wie du weißt.
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