Die Probe (German Edition)
links liegen und fuhr zuerst in die Wohnung hinauf. Sie hatte genug Zeit, sich etwas frisch zu machen, bevor sie nochmals zum Tor an der Strasse hinunterstieg. Wie erwartet, tauchte Punkt fünf vor sieben zuerst die zerzauste Straßenmischung auf, eine Art Schnauzer, und gleich darauf sein Herrchen, der Professor, wie ihn Daisy nannte. Das dürre Männchen, stets mit roter Baskenmütze, wohnte in einem von Efeu überwucherten Hexenhäuschen am Ende der Strasse. Er war ein seit langem pensionierter Gymnasiallehrer und führte seinen Hund mit der Präzision eines Uhrwerks täglich um diese Zeit an ihrem Haus vorbei, um pünktlich um sieben zur Nachrichtenzeit wieder zu Hause zu sein. Wann immer sie es einrichten konnte passte sie ihm ab, um ein paar Worte mit dem witzigen Alten zu wechseln, auch in Deutsch. Er sprach zwar ein ganz passables Englisch, aber er hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihr seine Muttersprache näher zu bringen, und das konnte ihr nur recht sein.
»Na, schönes Fräulein, welches Wort haben wir denn heute gelernt?«, begrüßte er sie schmunzelnd, während sein Hund aufgeregt um sie herum schwänzelte.
»Spät, das Gegenteil von früh«, antwortete sie brav.
»Wunderbar. Sie machen das gut. Jeden Tag ein neues Wort, so kennen sie nach einem Jahr schon mindestens dreimal so viele Wörter wie das Durchschnittspublikum der Nachmittags-Talkshows im deutschen Privatfernsehen.« Lachend trottete er weiter, nachdem sie den Schnauzer mit einem freundschaftlichen Klaps verabschiedet hatte.
Sie setzte sich in den Korbsessel auf der Loggia und schlug endlich das Magazin auf, das sie seit dem Morgen mit sich trug. Noch keine zwei Sätze hatte sie gelesen, als das Telefon läutete.
»Hallo Charlie«, meldete sie sich nach einem Blick auf das Display. Er klang ziemlich aufgeregt, als er antwortete:
»Daisy, wo steckst du die ganze Zeit? Seit einer Stunde versuche ich, dich zu erreichen.«
»Tut mir leid, ich war beschäftigt, Deutschlektion«, flunkerte sie. »Ich finde es zwar nett, dass du an mich denkst, aber ich arbeite nicht mehr für die Organisation, schon vergessen?«
»Ja – nein – natürlich – Deutschlektion?«
»Jeden Tag ein neues Wort. Durchaus hilfreich, wenn man in Deutschland lebt.« Er lachte nervös.
»Hör mal, es geht nicht um die Organisation, oder nur am Rande. Ich bin in Stavanger. Es geht um den Unfall auf der Bohrinsel und eure Firma.« Er erzählte ihr Thorsens traurige Geschichte.
»Wie geht’s seiner Frau und dem Kleinen?«, fragte sie bedrückt. Das Schicksal der Familie wühlte sie auf.
»Nicht gut, wie du dir vorstellen kannst, aber ihre Eltern und Geschwister unterstützen sie, so gut es geht.«
»Furchtbar, den Vater so zu verlieren«, murmelte sie nachdenklich. »Aber was hat das alles mit unserer Firma zu tun?«
»Die Ölpest. Die Fischzüchter und Vogelschützer hier würden euch die Füße küssen, wenn sie euren Universalreiniger hätten. Ich glaube, es wäre die große Chance, wenigstens einen Teil der Küste vor der drohenden Verschmutzung zu verschonen, und nebenbei kann ich mir keine bessere Werbung für euer Produkt vorstellen, kostenlos auf allen Nachrichtenkanälen.« Der Vorschlag überrumpelte sie vollkommen. Sie wusste erst nicht, was sie antworten sollte. »Nun, was meinst du?«, drängte er.
»Aber – die Produktion hat noch nicht einmal begonnen«, sagte sie unsicher.
»Gibt es keine Bestände aus dem Testbetrieb?«
»Schon – aber – ich weiß nicht.« Gratiswerbung, der Gedanke hatte durchaus seinen Reiz. Wenn sich das Produkt, das noch nicht einmal einen endgültigen Namen hatte, im Katastropheneinsatz in der rauen Nordsee bewährte, wäre ihre Firma mit einem Schlag international bekannt. Ihre smarten Nanobatons würden bald zur Standardausrüstung gegen Ölverschmutzung gehören. Kunden würden sich Vorräte ihres Produkts anlegen, ähnlich wie man Schaumlöschgeräte beschaffte und hoffte, sie niemals einsetzen zu müssen. So gesehen wäre die Katastrophe an der Küste Norwegens geradezu ein Segen für die junge Firma. Wäre, wenn sie denn bereit wären. Jedenfalls wollte sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen. »Ich muss mit Renate sprechen«, sagte sie wesentlich zuversichtlicher als zuvor.
»Mach das schnell, wir haben nicht viel Zeit. Die Kanister müssten eigentlich schon unterwegs sein.«
»Als ob es so einfach wäre, aber ich habe begriffen, keine Sorge.« Kaum hatte er aufgelegt, hörte sie, wie jemand die
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