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Die Probe (German Edition)

Die Probe (German Edition)

Titel: Die Probe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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bewegte sich mit Eleganz und traumwandlerischer Sicherheit in versnobter Gesellschaft, allein mit ihr jedoch war seine Unsicherheit mit Händen zu greifen. So sehr sie das anfänglich amüsierte, so delikat erschien ihr diese Schwäche nun, kurz vor der Abreise. Sie wollte unter keinen Umständen ohne klare Entscheidung nach Zürich zurück, doch bisher blieb er stets im letzten Augenblick auf Distanz. Gehörte sie nun dazu oder nicht? Oder anders gefragt: begehrte er sie, oder war sie ihm letztlich gleichgültig? Das war ihr letzter Abend. Die Entscheidung ließ sich nicht weiter aufschieben. Heute musste sie es wissen, und sie würde dafür sorgen, dass diese Entscheidung in ihrem Sinne ausfiel. Sie durfte nichts dem Zufall überlassen. Sie schmunzelte etwas gequält, als ihr auffiel, dass sie diesmal eine völlig neue Strategie brauchte. Bisher ging es in der Regel nur darum, sich ungebetene Draufgänger mehr oder weniger elegant vom Leibe zu halten. Diesmal musste sie mit äußerster Vorsicht aktiv werden, aber die Aussicht auf ein sorgloses Leben an seiner Seite rechtfertigte jeden Aufwand. Selbst mit seiner giftigen Schrulle von Privatsekretärin würde sie sich arrangieren, oder sie einfach hinausekeln. Ein Leben in bester Gesellschaft, mit Bediensteten, die jederzeit zur Verfügung standen und, nicht zu vergessen, einem Spitzenkoch. Ein Teil dieser noblen und arroganten Gesellschaft zu sein, die sich buchstäblich alles leisten konnte, nicht mehr nur Klinken putzen an ihren Türen. Sie verdiente es, dazuzugehören. Sie war keine dieser hirnlosen Tussis, die mit Schlauchlippen und Silikonbusen ewige Jugend vorschürzten, um ans große Geld zu kommen. Sie hatte Klasse, und sie war sicher, dass Louis dies genauso sah.
    Die erste wichtige Entscheidung an diesem lauen Sommerabend vor ihrem letzten Dinner fiel ihr nicht leicht. Nach sorgfältiger Überlegung nahm sie die Robe von Gaultier aus dem Schrank, die er noch nicht gesehen hatte: ein spitzenbesetztes, schwarzes Mieder mit bunten Bahnen aus luftigem Chiffon, durch die gerade genug Bein schimmerte, um die Fantasie anzuregen. Im Grunde hatte er eine barocke Seele, und diese raffinierte Mischung üppiger Pracht mit schlichter Eleganz war die einzig richtige Wahl für diesen Anlass. Keine billige Anmache, sondern die kunstvolle Präsentation ihrer einladenden Rundungen, die keinen vernünftigen Mann kalt lassen konnte, schon gar keinen barocken Geist.
    Bevor sie ihr Boudoir verließ, suchte sie nochmals das Bad auf, nahm ein Briefchen aus ihrer Tasche, leerte das weiße Pulver auf die Marmorplatte, formte eine schöne Linie und sog den Schnee mit dem aufgerollten Papier in die Nase. Sie brauchte heute wache Sinne. Siegessicher schritt sie die Treppe hinunter zum Speisesaal. Auf halbem Weg kam sie an der ewig verschlossenen Tür vorbei. Sie stand schon an der unteren Treppe, als sie elektrisiert zusammenzuckte und nochmals zurückblickte. Die Tür war offen! Nur einen feinen Spalt breit, aber sie war offen. Hastig schaute sie sich um. Alles still, sie war allein. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie sich vorsichtig der geheimnisvollen Tür näherte. Sie atmete tief durch, bevor sie es wagte, das schwere Portal weiter aufzustoßen. Sie hielt inne, horchte. Noch hörte sie kein Geräusch. Im Raum hinter der Tür war es stockdunkel, als hätte man die Wände in schwarzen Samt gehüllt. Sie tat einen zaghaften Schritt hinein. Plötzlich fiel ein greller Lichtkegel auf sie. Eine innere Tür hatte sich geöffnet, und im Lichtschein erkannte sie die Silhouette ihres Gastgebers. Sie erstarrte augenblicklich, zu Tode erschrocken. Er schien nicht weniger überrascht, sie hier zu sehen, stutzte und musterte sie reglos. Ein kratzendes Geräusch hinter ihr löste ihre Erstarrung.
    »Verzeihung – ich habe den Kater gehört – ich dachte ...«, stammelte sie, bevor er den Mund öffnete. Als wollte es ihr ein Alibi verschaffen, streckte das rabenschwarze Tier neugierig seinen Kopf zur Tür herein. Er blieb misstrauisch, zwang sich zu einem säuerlichen Lächeln und sagte:
    »D’Artagnan muss seine Nase überall hineinstecken. Er sollte vorsichtiger sein.« D’Artagnan? War das nicht der Freund der drei Musketiere am Hof des Sonnenkönigs? Vielleicht spielte sie die Lady Winter, die selbstbewusste, raffinierte, intrigante und vor allem hinreißend schöne Mylady. Warum auch nicht, so falsch war das Bild keineswegs. Sie gefiel sich in dieser Rolle. Er drängte sie sanft aus

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