Die Probe (German Edition)
jetzt beleidigt, als hätte er sie versetzt. Eine ganze Weile wollte sie sich nicht mehr beruhigen, bis sich ihr Verstand allmählich wieder durchsetzte. Was bildete sie sich ein? Was hatte das alles mit ihr zu tun? Er führte sein Leben, sie ihres, und mehr war da nicht, basta. Noch einmal meldete sich ihr Bauchgefühl zurück, wollte aufbegehren, aber sie unterdrückte die irrationale Regung und öffnete die neuste Version des Projektantrags auf ihrem PC. Die Änderungen aus der letzten Besprechung mit Professor Schmidt mussten dringend eingearbeitet werden.
Stavanger
Beim Anblick des schmucklosen, grauen Betonblocks verflüchtigte sich der letzte Rest von Charlies Optimismus, als ihn das Taxi vor dem Stavanger Universitätsspital absetzte. Mit einem Knoten im Magen suchte er das Abteil auf der Intensivstation, wo der unglückliche Thorsen um sein Leben kämpfte. 120, 118, Zimmer 112 musste am Ende des Korridors liegen. Von weitem sah er einen Knaben am Boden sitzen. Der Kleine spielte mit einem Boot, der Gang war die raue See, und er schien mitten in einem heiklen Rettungseinsatz zu stecken. Einige der Plastikfiguren waren jedenfalls schon auf dem Boot in Sicherheit.
»Soll ich dir helfen?«, fragte er lächelnd, aber der Bub schaute ihn nur mit großen Augen verständnislos an. Er schätzte sein Alter auf etwa acht Jahre, und er sprach wohl nur Norwegisch.
»Ich heiße Erik, wie heißt du?«, sagte der Kleine plötzlich in gut verständlichem Englisch.
»Mein Name ist Charlie«, antwortete er schmunzelnd. »Dein Englisch ist gut, Erik. Dein Vater heißt Thorsen, nicht wahr?« Erik nickte und zeigte freudig auf eine der Figuren auf seinem Schiff.
»Das ist mein Vater.«
»Gut, er ist gerettet. Ich bin ein Freund deines Vaters.« Er deutete auf die Tür zu Zimmer 112 und fragte. »Ist Thorsen da drin?« Wieder nickte der Kleine, diesmal mit traurigem Blick.
Das Erste, was er im Halbdunkel wahrnahm, war das beruhigende, regelmäßige Piepsen des Herzfrequenzmonitors. Thorsen lag reglos im Bett, die Augen geschlossen, die Nase an die Schläuche der Beatmungsmaschine angeschlossen, die Kanüle des Infusionsschlauchs im Arm. Im Stuhl neben dem Bett saß eine hagere junge Frau mit hängenden Schultern, den Kopf gesenkt. Auch sie schien zu schlafen. Das musste Kjerstin sein, Thorsens Ehefrau, die er nie kennengelernt hatte. Gott sei Dank, er lebt , dachte Charlie, zog einen zweiten Stuhl ans Bett und setzte sich gegenüber der Frau. Das leise Geräusch ließ sie auffahren. Sie war sofort hellwach und schaute ihm verwirrt ins Gesicht. Dann lächelte sie müde und sagte:
»Sie müssen Charlie sein. Thorsen hat mir von Ihnen erzählt.« Er ging um das Bett herum und streckte ihr die Hand entgegen. Mit belegter Stimme begrüßte er sie und stammelte leise:
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll – es tut mir so leid. Ich wollte, ich könnte etwas tun, um ihm zu helfen.«
»Sie sind hergekommen, das wird ihm bestimmt helfen.« Er senkte seine Stimme noch weiter.
»Wie geht es ihm?« Sie zuckte ratlos die Achseln und flüsterte tonlos:
»Er hat schwere innere Verletzungen. Die Ärzte wollen keine Prognose stellen, oder sie wissen es selbst nicht.« Er sah die Angst in ihren Augen. Sie erhob sich und sie zogen sich in eine Ecke zurück, wo sie sich besser unterhalten konnten.
»Was ist überhaupt mit ihm geschehen?«, fragte er, um von der unmittelbaren Sorge um sein Leben abzulenken. Bisher kannte er nur die offiziellen Berichte über die Katastrophe. Sie schien dankbar zu sein, mit jemandem reden zu können, der sich wirklich für Thorsens Schicksal interessierte und erzählte ihm die Geschichte des Unfalls und der unwahrscheinlich glücklichen Rettung in letzter Minute.
Vom Bett her hörten sie leises Stöhnen. Sofort war die Frau beim Patienten, hielt seine Hand und sprach beruhigend auf ihn ein. Charlie verstand kein Wort, aber er sah, dass Thorsen die Augen geöffnet und ihn erkannt hatte. Die Herzfrequenz beschleunigte sich, als er zu sprechen versuchte. Unter größter Anstrengung brachte er nur ein unverständliches Krächzen zustande. Charlie legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm und sagte:
»Nicht sprechen, Thorsen. Deine Frau hat mir alles erzählt. Du hast den größten Blowout in der Nordsee überlebt. Du wirst es schaffen«. Kjerstin gab ihm einen Schluck Wasser mit dem Trinkhalm, worauf sich sein Puls wieder beruhigte. Er versuchte nochmals zu sprechen, langsam und sehr leise, und diesmal
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