Die Prophetin vom Rhein
ein winziges Stück, und auch von den Trauben, die die Infirmarin ihr anbot, zupfte sie sich lediglich eine Handvoll ab.
»Ich musste es tun«, erwiderte die Magistra, nachdem sie gegessen hatten, faltete die Abschrift sorgfältig zusammen und steckte sie zurück unter die Kutte. »Nicht eine Antwortzeile, seit Erzbischof Arnold ihn erhalten hat. Und das liegt inzwischen Monate zurück.«
»Immerhin hat er dich nach Mainz eingeladen«, gab Bruder Volmar zu bedenken, der die beiden Frauen in die Bischofsstadt begleitete. »Ist das etwa keine Antwort? Vergiss nicht, du hast ihm mit deinem Schreiben ordentlich zugesetzt! ›Richte dich also zu Gott empor, denn deine Zeit kommt schnell!‹ Vielleicht hat er den Schlusssatz in die falsche Kehle bekommen, bei all den Schwierigkeiten, mit denen er ohnehin ständig kämpfen muss.«
Benigna blinzelte fröhlich in die Sonne. Seitdem sie wusste, dass ein Wiedersehen mit ihrer früheren Schülerin auf sie wartete, war ihre Laune ungetrübt. Natürlich war sie nicht mit leeren Händen aufgebrochen. Ein zweiter Korb, der von ihrem Sattel baumelte, enthielt einen üppigen Herbstgruß aus dem Klostergarten.
»Wollen wir nicht weiterreiten?«, schlug sie vor. »Sonst muss der Erzbischof noch auf uns warten.«
»Es ist doch eher die Vorfreude auf Theresa, die dich so ungeduldig macht«, sagte Hildegard beim Aufsteigen. »Aber
lass uns reiten, meinetwegen! Sollte mir recht sein, wenn du das Mädchen heiter und glücklich antriffst.«
Nach langem innerem Ringen hatte sie ihre Sorgen um die junge Hebamme für sich behalten. Vielleicht waren Dudos Andeutungen ja nichts als ein hakenbewehrter Köder gewesen, der ihr die Eingeweide aufreißen sollte, um sie für seine Zwecke gefügig zu machen. Es gab keine Spionin im Kloster, davon war sie inzwischen überzeugt, sonst hätte sie diese längst entdeckt. Er musste eine andere Quelle für seine Informationen aufgetan haben. Vor Ort würde sie sich davon überzeugen, ob seine Behauptungen überhaupt zutrafen. Hugo, dem sie sich vorbehaltlos anvertraut hatte, hatte sie darin bestärkt und gleichzeitig ausdrücklich vor dem ehrgeizigen Kanonikus gewarnt.
»Eine Kröte ist er, jemand, der überall Gift spuckt, um seine Ziele zu erreichen.« Selten hatte sie ihren sonst so ausgeglichenen Bruder derart aufgebracht gesehen. »Dudo spinnt einen schändlichen Plan. Doch bislang geht er so raffiniert dabei vor, dass niemand ihn belangen kann.«
»Mich hat er unverhohlen aufgefordert, ihn schriftlich beim Kaiser oder beim Heiligen Vater als künftigen Erzbischof zu empfehlen, was ich natürlich unterlassen habe. Besonders raffiniert erscheint mir das nicht gerade.«
»Ich wette, es gab keine Zeugen für euer Gespräch. Habe ich recht?«, fragte Hugo, was Hildegard bejahen musste. »Im Zweifelsfall könnte er immer noch behaupten, du hättest alles ganz falsch verstanden. Dudo findet immer eine Möglichkeit, um sich herauszureden.«
»Aber der Erzbischof! Hast du Arnold von Selenhofen denn nicht vor ihm gewarnt?«
»Immer und immer wieder! Doch der will nichts hören und nichts sehen, fast als sei er begierig, in sein eigenes Unheil zu rennen.«
Würde die Audienz ihr helfen, diese verworrene Angelegenheit zu klären? Hildegard hatte nicht einmal einen richtigen Plan. Natürlich ging es um die Zukunft des Rupertsbergs, doch die lag nun schon so lange im Ungewissen, dass sie sich beinahe daran gewöhnt hatte. Aber das durfte sie nicht, schalt sie sich selbst, denn das Lebendige Licht hatte ja etwas anderes von ihr gefordert.
Ihre innere Unruhe wuchs, als sie sich der Stadt näherten. Die Herbstluft war kühl und klar wie frisches Wasser. Noch wärmte die Sonne, doch man spürte, wie sie von Tag zu Tag mehr an Kraft verlor. Helles Nachmittagslicht fiel auf die stattlichen hellen Mauern, die Mainz umgaben, auf die Türme und Palisaden, die eine stetig wachsende Bürgerschaft vor feindlichen Angriffen schützen sollten.
»Schön wie das himmlische Jerusalem!«, rief Schwester Benigna begeistert aus, was Hildegard mit einem feinen Lächeln quittierte. Was wusste ihre treue Infirmarin schon, die das Kloster seit Jahren nicht mehr verlassen hatte! Wenn wahr war, was sie insgeheim befürchtete, waren sie gerade dabei, eine Schlangengrube voller Lug und Trug zu betreten.
Sie passierten das nahe am Rhein gelegene Mühlentor. Von hier aus konnte es nicht mehr weit bis zur Fischergasse sein, das wusste Hildegard von Josch, der seltsam herumgedruckst
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