Die Prophetin vom Rhein
vor der Bischofsresidenz angekommen waren, aber in ihrem Kopf jagten sich die Gedanken. Hatte sie damals in Mainz zu früh aufgegeben, als sie im Haus des Stoffhändlers gewesen war? Waren ihr vielleicht nicht die richtigen Worte in den Sinn gekommen? Der Verlust Theresas war wie eine Wunde, die sich nicht mehr richtig schließen wollte: so gut wie kein Tag, an dem ihr Theresa nicht in den Sinn kam.
Sofort fiel Hildegard jetzt auf, dass das Anwesen einer Festung glich. Das große Tor war verrammelt, überall liefen Bewaffnete herum, und wäre sie nicht angemeldet gewesen, man hätte sie sicherlich niemals zu Arnold vorgelassen.
Sie erschrak, als sie ihm schließlich gegenüberstand, so gealtert erschien er ihr. Der Körper schlaff und merkwürdig aufgeschwemmt, die Augen so tief in den Höhlen, dass sie fast schwarz wirkten. Jetzt müsste sich sogar Schwester Benigna anstrengen, wenn sie ihm noch Heilung bringen wollte.
»Ich hab sie alle einsperren lassen«, rief er, kaum hatten sie die ersten Grußworte getauscht. »Kanonikus Dudo war so freundlich, an meiner Stelle die ersten Verhöre zu übernehmen. Bist du nun endlich zufrieden, geliebte Tochter? Ich wünschte nur, ich könnte mit all meinen Feinden auf diese Weise verfahren!«
»Wovon redet Ihr, Exzellenz?«, fragte Hildegard, die ahnte, worum es ging.
»Von den guten Christen. Einige konnten sich offenbar
noch rechtzeitig absetzen und sind spurlos verschwunden, doch wenigstens sitzen zehn von ihnen in den unterirdischen Verließen von Sankt Jakob, wo die Ratten an ihnen nagen. Dieser Spuk wird also bald vorüber sein, und ich kann nur hoffen, der andere auch.«
Theresa, war das Einzige, was die Magistra auf einmal noch denken konnte. War sie geflohen? Oder gehörte sie zu den Eingekerkerten? Sie konnte ihn ja kaum danach fragen.
»Wieso weilt Ihr nicht in Mainz, Euer Exzellenz?«, fragte sie, als er sie in einen behaglich eingerichteten Raum geführt hatte, den ein großes Kaminfeuer erwärmte.
»Das will ich dir gern sagen. Bevor die Aufrührer nicht zu Kreuze gekrochen sind, und zwar bedingungslos, setze ich keinen Fuß mehr in diese Stadt.« In seinen Augen war ein merkwürdiges Flackern, das sie an Totenlichter erinnerte, die sich im Wind bewegten. »Sie sollen bereuen, was sie mir angetan haben, und sich unter der Strafe beugen, die sie verdienen. Verweigern sie das, wird sie das Schlimmste treffen.«
Aus einem Schreiben Hugos wusste Hildegard, wie umfangreich der Katalog war, den Arnold ersonnen hatte: Harmschar der Aufrührer, barfuß und in Büßergewändern durch die ganze Stadt, Verbannung der führenden Ministerialiengeschlechter aus Mainz, bis er ihnen eines Tages gnädig die Rückkehr erlauben würde, Wiederaufbau der zerstörten und abgebrannten Gebäude, Zahlung einer enormen Summe als Wiedergutmachung, deren Höhe ihr schier den Atem genommen hatte.
»Er will seine Gegner brechen, hatte Hugo geschrieben, was sich gegen ihn richten könnte. Für Arnold von Selenhofen geht es nur um seinen Stolz, den er als besudelt betrachtet. Dabei übersieht er freilich, dass sein schlimmster Feind ihm wie die
Laus im Pelz sitzt: Kanonikus Dudo. Während der Erzbischof gegen die anderen streitet, kann der in Seelenruhe die Schlinge zuziehen …«
»Und Kanonikus Dudo?«, fragte Hildegard vorsichtig. »Ein begabter, aber auch sehr ehrgeiziger Mann, der genau weiß, was er will. Wie steht er eigentlich zu dem Ganzen?«
»Hätte ich mehrere wie ihn an meiner Seite, ich müsste mich nicht Nacht für Nacht schlaflos im Bett wälzen«, erwiderte Arnold. »Dudo ist mein zweiter Petrus: ein Fels in der Brandung. Ohne ihn wäre ich verloren.«
Was sollte sie ihm darauf entgegnen? Offenbar wollte er nicht sehen, welche Natter er an seinem Busen genährt hatte.
»Dem geschlagenen Feind die Hand zu reichen, zeichnet den wahrhaft Großen aus«, sagte sie. »Auch wenn es unserer menschlichen Natur manchmal schwerfallen will. Dann sollten wir uns daran erinnern, dass der Schöpfer uns nach Seinem Ebenbild erschaffen hat. Verzeiht Er in seiner unendlichen Güte nicht immer wieder unser sündiges Tun?«
Die schütteren Brauen Arnolds hatten sich zornig zusammengezogen.
»Spar dir die Mühe, mich umstimmen zu wollen!«, rief er aufgebracht. »Es wird dir nicht gelingen. Dieses Mal sind sie zu weit gegangen. Ich verlange Unterwerfung. Mit weniger werde ich mich nicht zufriedengeben. Und wenn erst einmal die starken Truppen des Löwen hier eingetroffen sind
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