Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Prophetin vom Rhein

Titel: Die Prophetin vom Rhein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
Vom Netzwerk:
Verschwiegenheit anvertraut hatte, just an jenem Tag einen neuerlichen und dieses Mal erfolgreichen Fluchtversuch unternommen, an dem herumziehendes Räuberpack Thies in der Werkstatt erstach.
    Was hätte Theresa nicht alles darum gegeben, um dieser Geschichte Glauben schenken zu können! Irgendetwas, das sie nicht genau benennen konnte, hinderte sie daran. Dass Gero etwas mit Thies’ Tod zu tun haben könne, schloss sie aus. Die beiden waren wie Goliath und David gewesen, ein mächtiger Stier gegen ein tänzelndes Füllen, das ihm an Kraft und Ausdauer weit unterlegen war. Dagegen
wollte ihr die Geschichte mit den Räubern, die scheinbar wie vom Erdboden verschwunden waren, nicht mehr aus dem Kopf gehen. Hatten sie ihren Bruder zum Mitkommen gezwungen? Musste Gero, der sie womöglich bei ihrer grausigen Tat überraschte, sich ihnen anschließen, um sein junges Leben zu retten? Vielleicht war er ihnen auch durch seine aufbrausende Art lästig geworden, und sie hatten nicht gezögert, ihn unterwegs ebenso abzustechen wie seinen Lehrmeister.
    Es gab Nächte, da träumte sie von Gero, sah ihn mit offenen Augen leblos und aufgequollen wie eine übergroße Kröte im Rhein treiben, und sie wachte jedes Mal nass geschwitzt und voller Verzweiflung darüber auf, dass sie ihn alleingelassen hatte. Nach dem Tod der Mutter hatten sie beide doch nur noch einander gehabt! Und jetzt war dieses einst so starke Band für immer zerrissen.
    Der Pfarrer von St. Martin, dick wie ein Fass, mit wässrig blauen Augen, die herausquollen, als wollten sie ihre Höhlen sprengen, schien direkt in Theresa hineinschauen zu können, was ihr großes Unbehagen verursachte.
    »Ich trage das Kind der ehrbaren Witwe Cäcilie«, hörte sie neben sich Eva sagen, deren Stimme dabei so gelassen klang wie immer. »Ein Mädchen. Es soll auf den Namen Maris getauft werden.«
    Der Pfarrer stieß einen tiefen Ton aus, der wohl beruhigend wirken sollte. »Der Kindsvater?«, brummte er.
    »Sarwürker Thies«, lautete Evas Antwort.
    Es gab keinen in Bingen, der nicht über das traurige Schicksal des Sarwürkers Bescheid gewusst hätte. Der Pfarrer nickte. Nun traf sein gestrenger Blick erneut Theresa, der vor Schreck fast der Täufling aus den Armen gerutscht wäre.
    »Ich trage das Kind der ehrbaren Witwe Feme«, sagte
sie mit stockender Stimme. »Ein Junge. Er soll auf den Namen Vinzent getauft werden.«
    »Der Kindsvater?«, hörte sie den Pfarrer fragen.
    Plötzlich war in ihrem Kopf nur noch ein weißes Rauschen und alles, was Feme ihr mühsam eingetrichtert hatte, wie durch Zauberhand verschwunden. Sie versuchte, einen halbwegs vernünftigen Satz hervorzubringen, doch es gab etwas in ihr, das sich dagegen wehrte.
    Weil es nicht die Wahrheit war.
    Plötzlich wurde Theresa klar, dass sie die vereinbarte Lüge nicht über die Lippen bringen konnte. Eva warf ihr einen besorgten Blick zu. Doch sie zog nur die Schultern hoch - und blieb weiterhin stumm.
    Hinter ihnen wurde es unruhig. Der kleine Rochus begann zu quengeln, weil ihm in der eiskalten Kirche alles schon viel zu lange dauerte, Cillie stieß ein scharfes Hüsteln aus, während Feme mit den Füßen scharrte wie ein Ross, das zu fest im Stall angebunden war.
    »Flickschuster Jockel haben wir bereits vor mehr als drei Jahren zu Grabe getragen«, sagte der Pfarrer mit sarkastischem Unterton. »Ich selbst hab seine Totenmesse gelesen, das weiß ich noch ganz genau. Falls es sich also nicht um ein Wunder handelt, von dem mir allerdings bislang nichts bekannt wäre, kann er dieses Kind nicht gezeugt haben.«
    Jetzt begann Feme hemmungslos zu schreien.
    »Umgebracht hat man ihn mir! Feige abgemurkst wie einen tollwütigen Köter. Aber er hat mich geliebt. Weil ich ihm so viel Freude geschenkt habe. Und seinen kleinen Vinz hätte er auch …«
    »Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater«, schnitt Evas Stimme ihr das Wort ab, »Schöpfer des Himmels und der Erde. Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn …«

    Und mit jedem Wort des feierlich gesprochenen Glaubensbekenntnisses, das das Kirchenschiff erfüllte, kehrte langsam Ruhe zurück. Theresa spürte, dass sich etwas wie Balsam auf ihre Seele legte. Sie brauchte die gesamte Dauer der Zeremonie, bis sie begriffen hatte, was es war.
    Diese beiden Winzlinge besaßen etwas, das ihrem toten Brüderchen verwehrt geblieben war. Als Getaufte lebten sie fortan im Segen der Kirche. Selbst wenn sie noch in der Wiege starben, wovor der Allmächtige sie

Weitere Kostenlose Bücher