Die Prophetin von Luxor
Dienerschaft zu Hause gelassen hatte, mit Beschlag belegt.
Cheftu war schon wieder auf den Beinen und trug ein lockeres Leinenhemd. Und er nahm nicht mehr gar so viel von dem Getränk aus der Küche zu sich. Seit sich die Dinge wieder normalisiert hatten, war Chloe nicht mehr in der Küche gewesen. Cheftu hatte eine Menge von Patienten behandelt, von den adligen Damen, die nach den langen Flußreisen krank waren, bis zu den Sklaven mit ihren Brandwunden, die Meneptah unter der Anleitung des Hemu neter versorgte. In fünf Tagen war Cheftu nicht ein einziges Mal vor der fünften Wache heimgekehrt. Der Arztberuf hatte sich in den letzten Jahrtausenden nicht wesentlich verändert, dachte Chloe. Immer noch verbrachten sie fast ihre gesamte Zeit in ihrer Praxis.
So spazierte sie allein durch die von Heuschrecken verwüsteten Gärten, in denen bereits in vergeblicher Anstrengung grüne Gräser sprossen, die allesamt für Hats Ehrenfeier abgepflückt würden. Es war bald Zeit für das Mittagsmahl, dachte Chloe, während sie auf den Palast mit dem flachen Dach zug in g.
Plötzlich plumpste wie ein schwerer Amboß die Nacht auf sie herab. Stirnrunzelnd blickte Chloe nach oben. Nur noch mit Mühe war die Sonne hinter der grenzenlosen schwarzen Wolke auszumachen, die jetzt zwischen Himmel und Erde hing. Dann wurde es noch dunkler, und Chloe merkte, daß sie in der Dunkelheit nicht einmal mehr ihr weißes Gewand sehen konnte. Aus dem Palast hörte sie Schreie, mit denen Re angerufen wurde. Je dunkler es wurde, desto schriller wurden die Gebete. Doch Chloe wußte, daß der goldene Gott in Waset so wenig mit dieser plötzlichen Dunkelheit zu tun hatte wie ihre Schwester Camille.
Es war die letzte Plage vor dem Passahopfer.
Fast konnte sie den Tisch der Familie ihres alten Freundes Joseph in Florenz vor sich sehen, die fein gekleideten nahen und fernen Verwandten, die silbernen Teller und fein gearbeiteten Kelche aus blauem venezianischem Glas mit Goldrand, in die jeder einen Finger getaucht hatte, während im Chor die Plagen rezitiert wurden. »Blut, Frösche, Mücken, Fliegen, Vieh, Blattern, Hagel, Heuschrecken, Dunkelheit, Tod des Erstgeborenen Sohns.«
Jeder Tropfen des rubinroten Weines hatte dabei für eine der Strafen gestanden, durch die Gott Ägypten in die Knie gezwungen und die Juden befreit hatte. Chloe blickte zum Himmel auf.
Sie konnte nicht das geringste erkennen. Selbst ihr Orientierungssinn schien verwirrt, so daß sie nur mit größter Mühe zurückfand. Die ängstlichen Schreie als Bojen nehmend, machte sie sich auf den Weg in Richtung Palast. Die weißgekalkten Wände könnten ebensogut mit Pech überzogen sein, dachte sie, soviel nützen sie mir. Die Hände vorgestreckt, setzte sie einen Fuß vor den anderen. Dann berührte sie etwas Festes und taste-te es ab. Eine Tür. Sobald sie eintrat, wurden die zuvor schwachen Schreie ohrenbetäubend laut. Männliche und weibliche Stimmen hallten durch die Lehmziegelmauern; es klang wie das Geschrei einer in Panik versetzten Armee.
»Warum zündet denn niemand eine Fackel an?« fragte sie laut, um festzustellen, ob irgendwer in ihrer Nähe war. Nachdem sie alles abgetastet und dabei mehr als einmal ins Stolpern gekommen war, kam sie zu dem Schluß, daß sie in ihren Gemächern war, oder jedenfalls in Gemächern, die den ihren so ähnlich waren, daß es keinen Unterschied machte. Sie tastete die Wand nach einer Fackel ab und zündete sie an. Wenigstens glaubte sie das. Die Geräusche waren allesamt zu hören, das Prasseln, mit dem der Funke übersprang und die Flamme aufleuchtete. Doch es gab kein Licht. Nichts.
Bestürzt rief sich Chloe die Einrichtung ihres Gemaches ins Gedächtnis. Sie stieß mit ihrem Schienbein gegen einen Stuhl und setzte sich, um nachzudenken. Wie lange dauerte diese Plage? Sie versuchte, sich an jenes eine Passahfest zu erinnern; was hatten sie über die Plage der Dunkelheit gesagt? Verdammt! Hätte ich doch damals nur genauer zugehört, fluchte sie, statt mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was Joseph von mir hält ... Na gut, wenn es sein mußte, würde sie eben hier sitzen bleiben, bis alles vorüber war. Keine der Plagen hatte allzu lange angedauert, allerdings hätten halb soviele Heuschrecken für eine ordentliche Landplage auch ausgereicht. Trotzdem war Gott bis jetzt einigermaßen gnädig gewesen, urteilte sie sachlich.
Chloe lächelte in die Dunkelheit hinein, erleichtert, daß sie ausnahmsweise einmal wußte, was hier vor sich
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