Die Prophetin von Luxor
nichts hören, doch die Trauer, die Cammy litt, zerriß Chloe das Herz. Der magere, irgendwie vertraut wirkende Mann erbleichte unter seiner gebräunten Haut.
Von irgendwoher wurde eine Bahre in Chloes Blickfeld gerollt. Vor dem bebrillten Mann hielt sie an. Er hob das Laken an, und Chloe schrie auf, als sie das Gesicht darunter erkannte.
Es war ihr eigenes!
Ich kann nicht tot sein! dachte sie panisch.
Plötzlich war sie naß. Tränen? Ihre eigenen? Nein. Das Wasser war überall um sie herum, lief ihr übers Gesicht, ihren Hals, sammelte sich unter ihr. Jemand schrubbte ihr Gesicht mit Sandpapier, rieb damit über den Schnitt in ihrer Wange, rieb immer weiter. Der Schmerz ließ sie endgültig wach werden. Sie schlug das Tuch beiseite und erkannte im selben Moment, daß der hellbraune Junglöwe auf ihr gelegen hatte. Sie blinzelte. Zweimal zwei goldene Augen starrten sie an. Cheftu drückte ihren nassen Kopf an seine Brust. »Ich habe schon geglaubt, ich hätte dich verloren«, flüsterte er. Sie drückte ihn weg und sah ihn an.
Sein Gesicht war grau, und seine Augen waren groß wie nie zuvor. »Was ist passiert, Chloe?« fragte er durch zusammengebissene Zähne.
Die Bilder flogen vor ihren Augen hin und her wie von einer durchgedrehten kosmischen Fernbedienung gesteuert.
»Ich habe mich selbst gesehen«, antwortete sie bebend. »Ich war tot - glaube ich.«
Die Worte kamen nur als leises Quietschen aus ihrem Mund, und Cheftu schloß sie in seine Arme. »Es war grauenvoll!« sagte er in seinem schwer verständlichen Englisch. »Ich hatte den Eindruck, daß unter deinem Gesicht ein anderes Gesicht hervorschaut. Doch das schlimmste war das Messer mit dem besetzten Griff, das immer wieder zwischen deinen Rippen erschien. Jedesmal, wenn ich danach gefaßt habe, war es weg. Dann kam es wieder.« Er bedeckte ihr Haar mit Küssen. »Du warst so bleich, so still.«
Mit zitternder Hand hob er ihr Gesicht an seines. »Obwohl deine Augen fast noch schrecklicher waren. Sie waren zu, und du wolltest einfach nicht aufwachen.« Er drückte einen Kuß auf ihre Lippen. »Du hättest mich beinahe allein gelassen, Chloe.«
Sie klammerte sich an ihn, schwer und abgehackt keuchend. »Laß mich nicht gehen, Cheftu! Bitte!« Dann kamen die Tränen. Es waren nur wenige, und sie kamen in großen Abständen, doch Chloe bebte, als würde sie ein ganzes Meer vollweinen. Sie konnte die Qualen in Cammys Gesicht einfach nicht vergessen. Man hatte ihr jedes einzelne Jahr und noch einige mehr angesehen. »Wenn ich ihr nur irgendwie mitteilen könnte, daß es mir gutgeht! Daß der Rotschopf nicht mehr ich ist! Nur ihretwegen muß ich heimkehren!« Chloe brach wieder zusammen.
»Hier, ma chérie .« Cheftu reichte ihr den Wasserschlauch. »Trink, damit du weinen und diese giftigen Säfte loswerden kannst.« Chloe hob den Lederbeutel mit beiden Händen an und trank das süße, kühle Naß. Cheftu warnte sie: »Nicht so viel. Ohne etwas zu essen, wirst du krank davon.« Sie reichte Cheftu den Wasserschlauch zurück und ließ sich von ihm wieder behutsam auf den Boden betten.
Sein Gesicht hatte wieder etwas an Farbe gewonnen, doch er sah immer noch schrecklich aus. Pferdeschwanz und Bart, die er während ihrer Zeit bei den Israeliten hatte wachsen lassen, waren verfilzt und schmutzig. Unzählige Kratzer und blaue Flecken überzogen sein Gesicht und seinen Körper. Auf seiner Nase schälte sich die Haut, seine Lippen waren geplatzt und blutig, seine Augen gerötet, sein Leinengewand starrte vor Dreck. Doch er war am Leben.
Sie auch, trotz ihrer Abschürfungen, blauen Flecken, dreckigen Haare und des unerträglichen Schweißgestanks.
»Woher hast du das Wasser?«
Cheftus hageres, dreckiges Gesicht verzog sich zu einem breiten strahlenden Grinsen. »Der kleine Löwe.«
»Der kleine Löwe?« wiederholte Chloe verwirrt.
»Genau. Offenbar hat er ein bißchen die Gegend erkundet, während wir geschlafen haben, und als ich aufgewacht bin, hat er mit den Zähnen meine Hand gepackt und nicht mehr losgelassen, bis ich ihm gefolgt bin. Ich hab noch halb geschlafen. Zum Glück, sonst gäbe es ihn vielleicht nicht mehr.« Cheftu warf dem kleinen Löwen einen katzengleichen Blick zu, als wollte er ihm spielerisch drohen. »Er hat gleich hinter diesem Bergvorsprung eine Wasserstelle gefunden.« Er deutete in die entsprechende Richtung. »Eigentlich eine geniale Stelle. Es gibt dort Platz genug für einen Unterschlupf und außerdem eine Menge Tierspuren,
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