Die Prophetin von Luxor
wieder bewußtlos geworden. Chloe betete zum Himmel, daß sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Sie hatte einige von Cheftus Heilkräutern auf die zornig rote Stelle gepackt. Sie mußte unbedingt trocken bleiben. Das dürfte eigentlich keine Probleme bereiten - mitten in der Wüste.
Er hatte während der vergangenen Woche an Gewicht verloren, doch immer noch zeichneten sich Muskeln und Sehnen unter seiner Haut ab. Leider konnte sie ebenfalls seine Rippen zählen und seine Hüftknochen mitsamt den darunterliegenden Gelenken erkennen. Die Umrisse nachfühlend, tastete sie den Körper ab, den sie so sehr und so oft geliebt hatte . die Arme, die sie gewiegt hatten, die für sie gesorgt hatten, die sie beschützt und immer wieder voller Leidenschaft umschlossen hatten. In ihren Augen brannten Tränen, die sie so gern vergossen hätte, für die sie aber nicht mehr genug Feuchtigkeit im Leib hatte. Was sie alles noch nicht erlebt hatten, wo sie überall noch nicht gewesen waren . was sie alles noch nicht besprochen hatten.
»Ach Cheftu«, flüsterte sie und kühlte seine heiße Stirn mit Wasser. Sie mußte schniefen, so sehnte sie sich nach seiner Stimme, seinem leisen Lachen, der hochgezogenen Braue. »Ich habe dir nie von meiner Familie erzählt«, sagte sie. »Über meinen Vater müßtest du wahrscheinlich lachen. Er hat dunkles Haar, und er näselt. Nicht schlimm, aber hörbar. Ach ja, und meine Mimi. Von ihr habe ich mein rotes Haar ... Ach Cheftu, Mimi wäre begeistert von dir.« Chloe schluckte einen trockenen Schluchzer hinunter. »Bitte bleib bei mir, Liebling. Bitte geh nicht vor mir zu Mimi!« Tränen brannten ihr in den Augen. »Ich wünschte, wir hätten wenigstens ein einziges Mal zusammen Weihnachten feiern können. In Reglim. Da wohnt sie ... da hat sie gewohnt. In einem riesigen Haus mit einer umlaufenden Veranda und einem Pfirsichgarten dahinter.« Chloe schniefte. »An Weihnachten bäckt sie dauernd wie eine Wahnsinnige.« Die Erinnerung daran machte ihr den Mund wäßrig. »Sie ist eine typische Südstaatenschönheit, und sie ist der festen Überzeugung, daß keine Mahlzeit vollständig ist, bei der es nicht mindestens fünf verschiedene Pasteten, drei Sorten Fleisch und, wie sie es ausdrücken würde, einen ganzen Schlag Gemüse aus dem Garten gibt.«
Chloes Blick wanderte über die Weite der silbrigen ägyptischen Wüste. Sie sah fast weiß aus, wie aus Schnee. »Ich weiß noch, wie es mal so kalt war, daß es sogar geschneit hat. Es schneit so gut wie nie in Osttexas. Doch damals hat sich der Schnee entlang den Straßen und an den Hauswänden gesammelt. Von der Veranda hingen Eiszapfen, und die Schaukel war so kalt, daß einem fast die Finger klebenblieben.« Sie schloß die Augen und erzählte ihm weiter von der Kälte. Dem Eis. Dem Schnee. Sie badete seinen Körper und sang dabei Weihnachtslieder. Sie beschrieb ihm, wie sie zu rodeln versucht hatte und wie sie dabei schließlich im Krankenhaus gelandet war. Sie erzählte ihm von jeder Schneeflocke, die sie gesehen hatte, und davon, wie sie als Kind eine ganze Schachtel Blaupausenpapier in Fetzen geschnippelt hatte, um sich Schneeflocken zu basteln. Chloe legte den Kopf auf die Arme, wiegte sich im Takt der Musik und bibberte in ihrem Rippsamtkleidchen. Sie brauchte Handschuhe. Vielleicht würde sie ja welche zu Weihnachten bekommen?
Cheftu zitterte. Ein eisiger Wind schnitt durch seine Kleider, und ganz leise hörte er »Adeste Fideles« säuseln. Schon ewig hatte ihm niemand mehr ein Lied gesungen, während er eingepackt vor einem prasselnden Feuer saß und draußen kalter Winter herrschte. Plötzlich schlug er die Augen auf ... und sah nichts als Nacht. Über den gesamten Himmel, von einem Horizont zum anderen, zogen sich Sterne: ein angenehmes Licht verglichen mit der Sonne. Er wußte, daß in ihm das Fieber tobte, doch mit der Kälte der Nacht hatte sich auch sein Geist aufgeklart. Er drehte sich um und sah Chloe, die sich, die Knie an die Brust gezogen und den Kopf darauf gebettet, leise hin und her wiegte und dabei Fragmente von Weihnachtsliedern sang.
Er spürte die Kälte um ihn herum, warme Decken und Cidre. Er sah ihre Welt der Pfirsichbäume und Eiszapfen. Sie hatte ihn bezaubert, sie hatte mit ihrer Litanei seinen Geist aus seinem schmerzgepeinigten Körper in ihre Welt gelockt. Jetzt wollte er Wasser. »Chloe?«
Ihr Kopf schoß hoch; die Augen darin waren groß und schwarz wie der Himmel. »Du mußt schlafen.« Sie sprach
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