Die Prophetin von Luxor
wann genau die Schmerzen nachließen und sie ihre Umgebung wieder wahrzunehmen begann. Und erst mehrere Tage danach dachte sie erstmals wieder an Cheftu und Thief. Sie brachte nicht einmal die Kraft auf, die Augen zu öffnen und nach ihnen zu sehen. Dank der liebevollen Fürsorge eines anonymen, schweigsamen Helfers fühlte sie Nahrung durch ihren Leib rinnen und dicke Öle durch ihre Haut dringen.
Sie schlug die Augen auf, erblickte um sich herum weiße Leinwand, und schloß sie wieder.
Sie waren wieder in Ägypten - im alten Ägypten mit seinen fremden Göttern und grellen Farben. Ägypten, wo Cheftu dem Tod geweiht war, wenn er nicht schon tot war.
Cheftu!
Chloe fuhr hoch und zog die Leinendecke um ihren Leib. Vielleicht konnten sie ja fliehen? Wenn es noch nicht zu spät war? Sie ließ sich von ihrer Liege gleiten und hielt sich im letzten Moment daran fest, bevor eine Woge des Schwindels über sie hinwegschwappte, die ihr fast die Besinnung raubte. Dann hellte sich ihr Blickfeld wieder auf, und sie schlich auf die Vorhangtür zu. Sie warf einen Blick dahinter. Es war kein Mensch zu sehen. Zaghaft wagte sie sich ein paar Schritte vor.
»Kind, suchst du den Ägypter?«
Die Stimme ließ sie herumwirbeln und auf der Stelle in Verteidigungshaltung gehen. Vor ihr stand ein weißhaariger alter
Mann, über dessen bemaltes Gesicht das Fackellicht tanzte. Chloe stockte der Atem. Gut, sie hatte schon viele alte Menschen gesehen, aber der hier war wirklich alt. Uralt. Antik. Prähistorisch.
Auf seinem rasierten Schädel waren Symbole eintätowiert, die sie nicht entschlüsseln konnte. Ein Priester? An seinen langgezogenen Ohrläppchen hingen riesige Goldohrringe, und die fetten schwarzen Bleiglanzstriche um seine Augen und Brauen schienen das Gespinst von Falten auf seinem Gesicht noch zusätzlich hervorzuheben. Seine Haut hatte die Farbe und Textur feinen Furniers, und er trug den kunstvollen Schurz der vorangegangenen Dynastie. Er grinste so breit, daß sich die Muskeln in seinem runzligen Hals und um seinen Mund dehnten. Er hatte verblüffend starke, weiße Zähne und gesundes rosa Zahnfleisch. Riesige Zähne.
Sie blickte in seine Augen und sah zu ihrem Erstaunen, daß sie lachten. »Wie ich sehe, bist du überrascht, in diesem Land ohne eine einzige Lotosblüte auf einen Diener des Goldenen Gottes zu treffen?« Er lächelte wieder und schob den Kopf dabei nach vorne, bis er ihr die Zähne fast ins Gesicht streckte. »Hat Rastet dir die Zunge gestohlen, mein Kind?« Er bewegte die zerbrechlichen Glieder mit einer Grazie, die das Alter um seine Augen Lügen strafte.
Verwirrt wich Chloe zurück.
»Bitte setz dich zu mir.« Er machte kehrt und ging ihr voran in einen abgetrennten Bereich des Zeltes.
Da Chloes Instinkt ihr sagte, daß sie ihm vertrauen konnte, folgte sie ihm. In dem Raum stand ein vergoldeter Sessel neben einer riesigen Kohlepfanne aus Messing. Die Zeltwände waren mit bemalten weißen Leintüchern behangen, auf denen dargestellt war, wie Ma’at das Herz wog. In der Ecke stand ein Holzbett, und das Blut schoß durch Chloes Adern, als sie den schmerzgepeinigten Körper darauf erkannte. Cheftu!
Sie lief zu ihm hin und kniete zwischen den geschnitzten
Leoparden nieder, die jede Ecke des Lagerbettes zierten. Er sah rot aus, so als stünde seine Haut in Flammen, doch man hatte ihn gebadet und seinen Verband gewechselt. Sie schaute über ihre Schulter. Der Mann saß mit abgewandtem Gesicht auf einem Stuhl und fächelte sich in der Nachmittagshitze Luft zu. Chloe setzte einen Kuß auf Cheftus Stirn und ging zu ihrem Gastgeber zurück.
Ihre Stimme bebte vor Tränen. »Ich danke dir, Priester, für alles, was du für ihn getan hast. Wird er wieder ganz gesund?«
Der Alte bedachte sie mit einem listigen Blick. »Ja, Priesterin. Du hast ihn sehr gut gepflegt. Eine schlichte Narbe, die schnell verheilen müßte, wenn sie nicht fiebert oder fault. Und jetzt geh und wasch dich, dann werden wir essen. Ihr müßt gesund werden und nach Ägypten zurückkehren. Ihr habt eine Bestimmung zu erfüllen.«
Chloe blieb wie angewurzelt stehen. »Wir sind nicht in Ägypten?«
»Nein, Kind. Wir sind hier auf dem Sinai in der Oase Mirna. Ihr seid hier in Sicherheit. Geh jetzt.« Er lächelte wieder. Mit wirklich immens großen Zähnen.
Ein schwarzer Sklave berührte sie am Ellbogen und führte sie durch einen weiteren Vorhang in ein Bad. Die flache Wanne war bereits eingelassen, und Chloe sah ein Tablett mit Wein,
Weitere Kostenlose Bücher