Die Prophetin
sie eine Gestalt.
»He, was machen Sie da?« rief sie und lief auf den Mann zu. Als sie ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchtete, sah sie, daß es der Priester aus dem Hotel Isis war. Er hielt schützend die Arme vor die Augen.
»Fremde haben hier keinen Zutritt«, sagte sie und senkte die Taschenlampe.
»Entschuldigen Sie, ich dachte, es wäre nichts Verbotenes, wenn ich mich etwas umsehe.« Dann rief er gegen den Sturm: »Ach, sind Sie nicht die Frau, die mir den Computer ausgespannt hat? Haben Sie Ihren Freund erreicht?«
Der kalte Wind ließ Catherine frösteln. Sie trug nur eine Bluse und Shorts. »Ja«, erwiderte sie und mußte mit der freien Hand ihre Haare festhalten, damit sie ihr nicht ins Gesicht geweht wurden.
»Michael Garibaldi«, sagte er mit einer leichten Verbeugung und streckte ihr die Hand entgegen.
»Was suchen Sie hier?« wiederholte sie ihre Frage, ohne auf die Hand zu achten.
»Man hat mir im Hotel gesagt, daß hier eine Grabung durchgeführt wird. Ich war neugierig. Arbeiten Sie hier?«
»Das ist meine Grabung. Ist es nicht etwas spät für eine Besichtigung?«
»Ich konnte nicht schlafen. Wie ich sehe, Sie auch nicht.« Er blickte an ihr vorbei zu dem beleuchteten Zelt. Dann drehte er sich um und starrte auf die dunklen Gräben und die Geröllhaufen. Catherine sah, wie der Wind sein Hemd an den breiten muskulösen Rücken preßte. Unwillkürlich überlegte sie, wie er wohl seine Muskeln trainierte.
»Sie sind bestimmt Dr. Alexander«, sagte er. »Im Hotel erzählt man, daß Sie etwas Wertvolles gefunden haben.«
»Das wissen wir noch nicht genau«, erwiderte Catherine vorsichtig. »Ich warte auf einen Beamten der ä-
gyptischen Regierung, bevor ich mit den Ausgrabungen fortfahre.« Er nickte. »Ich verstehe. Wenn das meine Grabung wäre, würde ich auch alle Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Ich erinnere mich daran, etwas über den Fund in der Nähe von Bir el Dam gelesen zu haben. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile.
Am nächsten Tag standen bereits überall Zelte, und innerhalb einer Woche waren alle Fundstücke verschwunden. Für die Polizei ist die Wüste sehr, sehr groß.«
Catherine blickte fasziniert auf seine blauen Augen. Sie dachte daran, wie sie als kleines Mädchen geglaubt hatte, daß ein Priester einem Menschen in die Seele blicken könne und wisse, ob man die Wahrheit sagte oder nicht. Diese Illusion hatte sie verloren, als sie erkannte, daß Priester auch nur Menschen waren.
Aber als sich jetzt Michael Garibaldis blaue Augen auf sie richteten, überkam sie das seltsame Gefühl, er könne ihr tatsächlich in die Seele blicken. Und das gefiel ihr überhaupt nicht. »Es besteht die Gefahr, daß das Erdreich nachgibt«, sagte sie. »Wir können deshalb Fremden nicht erlauben, auf dem Glände herumzu-laufen. Es ist zu gefährlich.« Sie richtete die Taschenlampe auf den Boden und führte ihn wie eine Platz-anweiserin im Kino von den Gräben weg zum Lager.
»Ich war gerade in Jerusalem«, sagte er leise, während er ihr folgte, »und habe beschlossen, meinen Urlaub zu verlängern, um etwas von der Sinaihalbinsel zu sehen. Eigentlich bin ich schon wieder auf der Rückrei-se.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich komme aus Chicago, falls Sie das interessiert.« Als sie noch immer schwieg, fragte er: »Warum lassen Sie es mich so deutlich spüren, daß Sie mich nicht mögen?«
»Vater Garibaldi…«
»Bitte«, unterbrach er sie lächelnd. »Nennen Sie mich Mike.« Aber Catherine ließ sich nicht erweichen.
»Ich habe als Kind gelernt, daß man einen Priester mit seinem Titel ansprechen muß. Ich finde es nicht richtig, einfach ›Mike‹ zu Ihnen zu sagen.«
»Ach so…«
Er schwieg, und sie hatte das Gefühl, er sei verletzt. Dann erwiderte er: »Und ich habe gelernt, daß man sich bedankt, wenn jemand so freundlich ist, einem zum Beispiel einen Computer zu überlassen.«
Inzwischen hatten sie Catherines Zelt erreicht, und das Licht fiel auf ihn. Sie sah Fältchen um seine Augen.
Entweder war er oft in der Sonne oder er lachte viel; vielleicht traf auch beides zu. Als er die Hand hob, um einen Nachtfalter zu verjagen, der vor seinem Gesicht flatterte, sah sie, daß er auch muskulöse Arme hatte.
Er mußte ein sportlicher Priester sein. Vermutlich spielte er mit den Jugendlichen im Ghetto von Chicago Basketball, ließ sich von ihnen ›Mike‹ nennen und versuchte, sie vor Drogen und Kriminalität zu bewahren.
Wenn er aus Chicago ist,
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