Die Prophetin
ihren Toten Wein geben.
Die Frauen meiner Familie sprachen mit meinem verstorbenen Bruder und berichteten ihm von den Ereignissen in der Familie. Sie brachten ihm manchmal sogar Spielzeug. So war das. Ich hatte einen Bruder, der als Toter mein Leben überschattete.
Trotz des wöchentlichen Rituals schien meine Mutter mehr zu wollen. Sie suchte nach ihm im Reich der Toten. Sie saß an seinem Grab, rief seinen Namen und wollte wissen, wo er sich befand. Ich deutete mit dem Finger auf die Erde und sagte: ›Da ist er, Mutter! Er schläft in der Erde.‹
Als ich älter wurde, verstand ich sie besser. Sie suchte nicht den kleinen Jungen, sondern seine Seele.
Mein Vater ging nicht mit uns zu dem Grab. Er sprach nie über den verlorenen Sohn. Meine Mutter hüllte sich in ihre Trauer wie in einen Mantel, mein Vater errichtete eine kalte und stumme Fassade, die ihn im Laufe der Jahre immer abweisender und schweigsamer machte. Es kam so weit, daß meine Eltern wie Fremde zueinander waren, denn sie gaben sich gegenseitig die Schuld am Tod meines Bruders.
Eine Art seelische Krankheit lastete über unserem Haus. Manchmal dachte ich, es sei das Fieber, das meinen Bruder getötet hatte. Ich glaubte, es sei noch nicht überwunden und verbreite Tag für Tag sein tödliches Gift.
Als ich acht wurde, machten wir uns auf eine lange Reise. Der Arzt meines Vaters riet dazu, denn er konnte ein schweres Rückenleiden meines Vaters nicht kurieren und empfahl ihm das berühmte Heil-wasser des Salzmeeres. Dort, in der Wüste von Judäa, hörten wir einen Mann predigen. Er sprach in seiner Sprache, und ein anderer übersetzte seine Worte ins Griechische, damit auch die Fremden unter den Zuhörern den Mann verstanden.
Jener Tag an dem Ufer das Salzmeeres liegt zwar schon viele Jahre zurück, aber ich kann mich noch deutlich an das Gesicht des Mannes in der Wüste erinnern, ich höre noch den Klang seiner Stimme und sehe den Kreis der Zuhörer, die ihm Fragen stellten und ihn ›Rabbi‹ nannten.
Mein Vater entfernte sich von der Versammlung und ging zu den Bädern und Ärzten. Aber meine Mutter wollte dem Mann zuhören, und ich blieb bei ihr, obwohl ich nichts von dem verstand, was er sagte.
Selbst heute kann ich mich an kein einziges Wort erinnern.
Wir kehrten nach Antiochia zurück, und mein Vater sagte, das Meersalz habe seinen Rücken geheilt.
Er hatte nie wieder Schmerzen.
Als ich sechzehn war, besuchte meine Mutter auf unserem wöchentlichen Weg durch die Stadt zum Grab meines Bruders wie immer den Astrologen. Nachdem wir die Hauptstraße erreicht hatten, die durch das Epiphania-Viertel zur Stadtmitte führte, sagte sie: ›Heute nehmen wir einen anderen Weg.‹
Es dauerte nicht lange, und wir gelangten an einen Platz, wo Kamele und Schweine, Sklaven und Esel verkauft wurden. Eine Gruppe Menschen stand in der Mitte, und ein Mann redete zu ihnen.
Damals, liebe Schwestern, herrschte große Unruhe unter den Menschen. Es war eine Zeit der Unsicherheit, in der viele in ihrer Verzweiflung und Angst Antworten auf spirituelle Fragen suchten. In der Stadt gab es die Anhänger der unterschiedlichsten Religionen. Jedes Viertel hatte seinen eigenen Tempel, in jeder Straße gab es einen Schrein, an jeder Kreuzung stand die Statue eines Gottes. Man sagte uns, sogar der Kaiser in Rom werde als lebender Gott verehrt. Auf die Plätze kamen viele Prediger, die zu den Menschen sprachen. Man sah dort die Boten des Hermes und die Anhänger von Zoroaster. Mein Vater nannte das den ›Marktplatz der Religionen‹, wo jeder einen Gott oder einen Glauben verkaufe. Man trieb Handel mit dem Segen der Götter und schacherte mit der Hoffnung auf die Gunst der Unsterblichen.
Der Mann, der zu den wenigen sprach, die sich dort eingefunden hatten, war ein Fremder. Normalerweise ging meine Mutter an solchen Versammlungen achtlos vorüber, aber an diesem Tag blieben wir stehen und hörten zu. Der Mann sprach von Vergehung und davon, daß jeder durch Verzeihen das Tor aufstoße und so zum Weg des Lichts finde.
Dieser Tag veränderte meine Mutter von Grund auf. Später konnte sie nie sagen, weshalb sie den anderen Weg gewählt oder weshalb sie dem Mann zugehört hatte. Aber anschließend gingen wir nach Hause zurück, sie verzieh meinem Vater und warf ihm nicht länger vor, daß er zu einem kalten, un-nahbaren und lieblosen Mann geworden war. Die Worte des Predigers schienen die Saat der Bitterkeit abgetötet zu haben, die so viele Jahre im Herzen meiner
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