Die Prophezeiung
– wie damals am Ufer des Potomac, als Sebastien sich nicht mehr gerührt hatte.
Der Sanitäter zerschnitt Benjamins Hemd und zerriss das Unterhemd.
Der Arzt schnappte sich den Defibrillator, knallte die beiden Pads auf Bens nackte Brust, und kurz bevor er ihm den ersten Elektroschock mitten durch die Rippen jagte, rief er: »Und weg.«
Benjamins Oberkörper bäumte sich wie in einem plötzlichen Schmerz auf und sackte schließlich wieder auf die Trage zurück.
»Noch einmal. Atropin zwei Einheiten und weg.« Erneut wurde Bens magerer Körper von dem Stromschlag durchzuckt, aber der Monitor zeigte noch immer keine Veränderung.
Ein Wimmern von der Seite.
Tom.
»David, meinst du, er schafft es?«, hörte sie Rose flüstern. Sie hatte sich bei Julia eingehakt und warf nur ab und zu einen Blick auf die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte.
»Du kennst doch Ben.« Es war Chris, der antwortete, und er klang so angespannt, wie Katie ihn selten erlebt hatte. »Den bringt so schnell nichts um.«
Sie starrte wie gebannt auf den Monitor, wo helle Punkte auf grünem Hintergrund nervös von links nach rechts wanderten.
Mach keinen Blödsinn, Ben, dachte sie, du bist eine Nervensäge, aber …
»Und weg.«
Wieder drückte der Arzt die Elektroden auf den Brustkorb. Nichts.
»Und weg.«
»Vier Runden, Dr. Yates. Epinephrin, Atropin, Ringerlösung und zwei Einheiten B-Positiv sind verabreicht.«
Endlich. Nach dem vierten Versuch hörten sie das beruhigende Piepen. Bens Herz fand wieder einen Rhythmus.
»Das wurde aber auch Zeit, Alter«, flüsterte Chris.
Ben schlug die Augen auf und versuchte instinktiv, sich gegen die Intubation zu wehren.
Katie beobachtete, wie Tom sich von David losriss und neben Benjamin auf die Knie ging. »Ich bin da, Sunny.« Er gab sich nicht die geringste Mühe, seine Stimme zu senken. »Und ich komme mit ins Krankenhaus. Ich bleibe an deiner Seite, verstehst du? Ich lass dich nicht allein! Mein Gott, was hast du nur getan?«
Ben versuchte, ihm zu antworten, doch der Arzt legte ihm warnend die Hand auf die Schulter. »Ganz ruhig. Sie können jetzt nicht sprechen.« Er gab den Sanitätern Zeichen, Ben auf die Trage zu legen. »In diesem Zustand können wir ihn nicht bis nach Vancouver transportieren. Wir bringen ihn erst einmal in die Klinik nach Lake Louise.«
Tom griff nach Benjamins Hand. Und in seinem Blick lag ein Ausdruck, der Katie nicht gefiel.
»Bitte zurücktreten«, schrie der Arzt. »Alle zurücktreten!«
Benjamin wurde im Eiltempo aus dem Saal geschoben und in diesem Moment entdeckte Katie Julias kleinen Bruder Robert, wie er die Hand hilflos vor den Mund gepresst, als müsste er sich übergeben, hinter den Sanitätern her aus dem Saal rannte.
Seine extreme Sensibilität machte sie wütend – und vermutlich ungerecht, aber sie konnte nicht anders.
»Wird er sterben? Wirklich sterben?« Der weinerliche Unterton in Toms Stimme fachte ihren Zorn nur noch mehr an.
»Tom, rede mit mir! Was meinst du damit, was Benjamin getan hat? Was weißt du?«, schleuderte sie ihm entgegen.
Erst jetzt schien Tom sie wahrzunehmen. Er war leichenblass und seine riesigen grünen Augen leuchteten in seinem Gesicht wie Fremdkörper. »Das geht nur mich und Ben etwas an«, sagte er.
»Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten in der Ebene ist eine Gerade.« Dr. Adam Lennon konnte auch noch die trivialste mathematische Erkenntnis von sich geben, sein Gesicht strahlte immer vor Begeisterung.
Sein Leitspruch – Mathematik ist wunderschön.
Sein Credo – sie ist geheimnisvoll.
Seine Religion – Zahlen bestimmen unser Leben, zeigen uns den Weg und vor allem – sie lügen nicht.
Normalerweise folgte Katie seinem Unterricht konzentriert, aber heute rauschten die mathematischen Definitionen einfach so an ihr vorbei. Sie waren nichts als weit entfernte Schallwellen. Dafür hörte sie noch immer den Hubschrauber, der sich mit Benjamin auf dem Weg in die Klinik befand. Aber vielleicht hörte sie auch einen anderen Helikopter, den aus ihrer Erinnerung.
Rose flüsterte neben ihr mit Julia. Katie verstand nur Satzfetzen: »Robert … völlig durch den Wind«, »Ben … Krankenhaus … seine Familie«, und »Was, wenn er stirbt?«
Katie bemühte sich um größtmögliche Gleichgültigkeit, die sie zum Henker nicht im Entferntesten empfand. Und es war offensichtlich eine verdammte Lüge, wenn superschlaue Leute behaupteten, man könne sich an das Unglück gewöhnen, werde sozusagen
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