Die Prophezeiung
eine gefrorene Pfütze, Benjamins Schuhe. Das Blau seiner Lieblingsjacke. Katie wurde geradezu schwindelig vom Zusehen.
Dann endlich eine längere Einstellung: Katie konnte eine Eisfläche ausmachen, die zwei bis drei Meter in den See hineinragte.
Stopp.
Sie spulte zurück.
Obwohl die Wetterstation vor dem historischen Teil des Colleges wochenlang Temperaturen unter minus zwanzig Grad angezeigt hatte, war der See am Campus den ganzen Winter über nicht zugefroren gewesen, nicht einmal in Ufernähe. Der Lake Mirror hatte nun einmal seine eigene Thermik. Wo war Ben auf diese Eisfläche gestoßen?
Sie ließ den Film weiterlaufen und hörte Benjamin nun undeutlich sagen: »Hey friends, soll ich mal prüfen, ob das Eis hält? Wir sind schließlich in Kanada, oder? Die Eishockeysaison ist in vollem Gang!«
Katie war sich die letzten Minuten sicher gewesen, dass Benjamin auf dem Weg zum Solomonfelsen war. Doch die folgenden Aufnahmen passten in keiner Weise dazu. Denn nun hielt die Kamera direkt auf einen Wasserfall zu.
War Benjamin zurück zur Brücke gegangen?
Aber das Wasser brach hier mit voller Wucht aus dem Felsen. Selbst wenn die Temperaturen weit über null Grad angestiegen waren, hätte die Eiswand an der Brücke nicht innerhalb von Stunden schmelzen können, oder?
Außerdem – er war auf dem Weg zum Solomonfelsen. Eindeutig! Der Bergrücken ragte weit in den See hinein und die etwas höhere Felswand, die sie Black Dream getauft hatte, lugte dahinter hervor.
Das Problem war nur – in der Gegend gab es keinen Wasserfall. Keinen, von dem Katie wusste. Und sie hätte davon wissen müssen, schließlich war sie am Black Dream den ganzen Sommer lang geklettert.
Plötzlich wieder ein Schnitt.
Dunkelheit.
Das Rauschen des Wasserfalls war verklungen. Dafür hörte sie nun jemanden heftig atmen. Sie fuhr herum, doch da war niemand.
Schritte. Schnee knirschte. Äste knackten. Stöhnen.
Und wieder lautes Keuchen. Es klang nach einer großen Anstrengung.
Doch wer immer da so keuchte – er war nicht auf dem Bild zu erkennen.
Katie schaute genauer hin. Inzwischen handelte es sich fast nur noch um Nahaufnahmen. Hohe Felsen, die aus einer Wand hervorragten und plötzlich Gesichter bekamen, ja, sich fast zu bewegen schienen. Füße, die über Baumstümpfe stolperten, Eisschollen, die mit voller Wucht gegen Steinblöcke schrammten.
Hatte sie irgendetwas verpasst? War ihr etwas nicht aufgefallen?
Katie spulte zurück bis zu der Stelle, wo sie Benjamin am Solomonfelsen vermutet hatte. Sie schaltete auf Slow Motion und versuchte, irgendetwas zu erkennen, das ungewöhnlich schien.
Alles war ungewöhnlich, vor allem diese Wassermassen, die sich die Steinwand hinunterstürzten.
Katie schüttelte den Kopf und zoomte die Aufnahme heran. Nichts, oder? Sie schaute genauer hin. Irgendetwas blitzte dort oben im Licht auf. War das Metall?
Und was schwamm dort in den Wassermassen mit? Für sie sah es nach zerrissenem Papier aus. Viel Papier.
Die Kamera schwenkte unruhig hin und her. Plötzlich änderte sich die Bildqualität. Die Farben verblassten und die Aufnahme begann zu ruckeln.
Und sie wusste auch, warum.
Es handelte sich um den Augenblick, in dem Benjamin angefangen hatte zu rennen. Sie hörte wieder seinen rasselnden, keuchenden Atem. Doch diesmal war sie nicht sicher, ob es lediglich von der Anstrengung herrührte. Nein – da schwang etwas anderes mit.
Angst.
Katie schaffte es nicht, den Blick abzuwenden und die Kamera einfach auszuschalten.
Noch einmal von vorn, dachte sie.
Der blaue Himmel. Der Ghost. Der Lake Mirror.
Schnitt.
Der Wasserfall, von dem sie nicht wusste, wo er plötzlich herkam. Seine merkwürdige Farbe fiel ihr auf, er schimmerte rötlich und ja, es war eindeutig Papier, das von den Fluten mitgerissen wurde.
Und dann Benjamin …
Vielleicht war Paranoia doch ansteckend. Katie neigte nun wirklich nicht zur Dramatik, aber es schien ihr, als laufe Benjamin um sein Leben.
Sie versuchte, das Bild weiter zu vergrößern, aber auf der Kamera war das Maximum erreicht. Sie musste sich das unbedingt am Computer anschauen.
Im nächsten Moment ertönte eine leise, fast schüchterne Stimme in ihrem Rücken.
Wer verflucht noch mal schlich sich einfach an? Ohne zu klopfen? Und dann fiel Katie ein, dass es ja nicht ihr Zimmer war, in dem sie sich befand.
»Was machst du hier?« Robert stand reglos wie eine Statue, eine Salzsäule oder was auch immer, hinter Katie. Sein Bernsteinblick war nicht auf
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