Die Prophezeiung
auch nicht gleich erkannt hatte.
Denn Mi Su hatte offenbar schon damals das getan, was sie am besten konnte: sich unauffällig anpassen. So hatte sie ihren Namen Mi Su offenbar abgelegt und ihren amerikanischen Zweitnamen Eliza benutzt.
Katie hatte den Zusammenhang erst hergestellt, als sie das uralte Polaroidfoto der Studenten oben auf dem Ghost entdeckt und darauf ihre Mutter erkannt hatte.
Und seitdem fragte sie sich, was Mi Su hier oben gemacht hatte.
Warum lebte sie noch, wenn sie doch für tot gehalten wurde?
Und warum hatte sie ihr nie davon erzählt? Okay, die letzte Frage war leicht zu beantworten. Ihre Mutter besaß keine Vergangenheit. Zumindest keine, über die sie sprach. Was die wichtigste Zeit ihres Lebens betraf, gab es offenbar große Erinnerungslücken. Die Zeit zwischen achtzehn, als sie die Schule in Seoul beendet hatte, und fünfundzwanzig, als sie ihren zehn Jahre älteren Ehemann in der amerikanischen Botschaft kennengelernt hatte, schien gar nicht zu existieren. Katie hatte immer gedacht, Mi Su hätte Korea bis zu ihrer Heirat nie verlassen. Doch die Wahrheit sah anders aus. Sie war in diesen Jahren am College in Kanada gewesen, hatte hier im Tal studiert. Warum kein Wort davon, selbst als ihre Tochter hierher gegangen war?
Gegenfrage, dachte Katie. Würde ich meiner Tochter von Sebastien erzählen?
Sie wich einem abgestorbenen Ast aus, der aus dem Schnee ragte. Sinnlos, an all dies auch nur einen Gedanken zu verschwenden. Sie würde nie eine Tochter haben. Sie konnte Kinder nicht ausstehen, oder?
Robert stoppte vor ihr und deutete nach vorn. Nicht weit entfernt erkannte Katie das Dach des Bootshauses.
Katie war bisher nur einmal hier gewesen, als sie auf dem Rückweg von der Felswand Black Dream vor einem Gewitter Schutz gesucht hatte. Sie verband keine bösen Erinnerungen mit diesem Platz wie David oder Robert. Von der dramatischen Rettungsaktion im Mai wusste sie nur aus Erzählungen. Wie Robert das Mädchen vom Solomonfelsen hatte fallen sehen, wie er ins Wasser gesprungen war, um ihr Leben zu retten, und David ihm folgte, um wiederum Robert zu retten. Und dann hatte sich das alles als albernes, tödliches Spiel der älteren Studenten herausgestellt.
Während Robert sein Notizbuch aus dem Rucksack zog, auf seine Uhr schaute und einige Eintragungen vornahm, stieg Katie die Treppe hoch.
»Was genau hat Ben hier gefilmt, Katie?« David war ihr gefolgt.
Katie hatte Robert und David vor ihrem Aufbruch noch einmal geschildert, was auf dem Film zu sehen gewesen war, aber jetzt holte sie sich die Details ins Gedächtnis. Es hatte nicht so gewirkt, als hätte er sich hier sehr lange aufgehalten.
Die Tür des Bootshauses war lediglich angelehnt und im Innern war es düster. Stickige, feuchte Luft schlug ihr entgegen und noch etwas: ein säuerlicher Geruch, der einen Hustenreiz hervorrief.
Etwas stimmt hier nicht.
Noch hatte Katie keinen sichtbaren Anhaltspunkt für ihr komisches Gefühl, aber es ließ sich nicht verdrängen.
»Setz dich am besten aufs Sofa und ruh dich aus«, hörte sie Robert zu David sagen. »Was macht dein Fuß?«
»Fühlt sich seltsam an. Wie Blei.«
»Das kommt vom Tiefschnee«, erklärte Katie und sah sich um. »Jeder Schritt kostet zehnmal mehr Kraft als normal.«
Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit im Innern. Eine dicke braune Staubschicht bedeckte die Scheiben, sodass kein einziger Sonnenstrahl ins Innere drang.
Katie beobachtete David, wie er das Erste-Hilfe-Paket aus seinem Rucksack zog, ohne das er noch nicht einmal zum Pinkeln ging, wie es Katie schien. Bevor er es öffnete, sah er sich in dem kleinen Raum um.
»Er war hier«, sagte er.
»Woher willst du das wissen?«
Er deutete auf eines der Fenster neben der Tür, wo jemand die Worte It’s better to burn out than to fade away in die Staubschicht geschrieben hatte, gefolgt von den Initialen KC.
»Benjamin ist Kurt-Cobain-Fan.«
»Woher kennst du Zitate von Cobain?«
»Ich kenn sie halt.« Über Davids Miene huschte ein dunkler Schatten. Katie schob das auf die Wunde, die er gerade desinfizierte und dann verband. Sie schien schon zu verschorfen, die blutige Stelle war bereits sauber verkrustet.
Robert ging im Raum auf und ab und untersuchte jeden Quadratzentimeter des Bodens. Aber es war Katie, die in etwas Feuchtes auf dem Boden trat. Erschrocken wich sie zurück.
»Oh, Scheiße, war Ike hier? Ist das sein privates Hundeklo?«
Robert ging in die Knie und betrachtete
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