Die Prophezeiung
Robert war wie die anderen in der Vorlesung gewesen, als Benjamin hereingestürmt war. Er hatte einfach zugehört.
Wenn sie nicht aufpasste, dann steckten die anderen sie mit ihren Mystery-Fantasien und Verschwörungstheorien noch an. Und das war eine Schwelle, die sie nicht übertreten wollte.
»Vielleicht, weil es mich nicht interessiert, was er in seiner Freizeit treibt?«, erwiderte sie. »Vielleicht, weil mir scheißegal ist, ob er seinen Verstand zudröhnt. Und … weil ich die Einzige in diesem Vorlesungssaal war, die keine Angst vor ihm hatte.«
Aber das war es nicht, das wusste sie genau.
Denn warum hatte Benjamin sich so für den Duke interessiert?
Keiner von ihnen forderte Tom auf, mit ihnen zu kommen. Er war einfach nicht in der Verfassung für diese Expedition. Nachdem er erst einmal davon überzeugt war, dass Benjamin ihn nicht betrogen hatte, schien seine größte Sorge nun, dass sein Freund tatsächlich sterben könnte. Er wollte so schnell wie möglich ins College zurückkehren, um von dort nach Lake Louise zu fahren.
»Nimm das mit. Gib es im Krankenhaus ab. Vielleicht hilft das weiter.« Robert streckte ihm den Plastikbeutel entgegen.
»Was ist das?« Tom starrte die Tüte mit den Resten, die Benjamin von sich gegeben hatte, angewidert und misstrauisch an.
Doch Robert ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Genau das sollen sie im Labor untersuchen. Vielleicht entdecken sie etwas, das ihnen weiterhilft.«
Tom nickte. »In Ordnung.«
»Aber gib es direkt im Krankenhaus ab.«
»Das wird nicht so einfach sein.«
Robert nickte. »Aber das ist nicht die Frage, oder? Sondern nur, wie wir Benjamin helfen können.«
Tom war schon in Richtung College verschwunden, als Katie nach ihrem Handy griff. »Hast du die Nummer des Krankenhauses dabei, David?«, fragte sie.
Er nickte verwirrt. »Ja. Ich hab mir sie vom Dean geben lassen, aber weil ich kein Verwandter bin, haben sie mir dort keine Informationen gegeben. Wozu brauchst du die Nummer?«
Sie streckte ungeduldig die Hand aus. »Wozu wohl?«, fauchte sie. »Während du ständig davon redest, dass Benjamin längst tot sein könnte, will ich mich lieber vergewissern.«
Plötzlich sah David beschämt aus und Katie tat ihr Verhalten leid. Wie hatte es in dem Gutachten dieses verdammten Psychiaters geheißen? Ihre ständigen verbalen Attacken anderen gegenüber sind Ausdruck tiefer Verletzungen, die von der Patientin selbst negiert werden.
Tja, so tickte sie nun mal, immerhin hatte sie das schwarz auf weiß. David würde es schon aushalten. Und hey, immerhin war sie dabei und half Benjamin, oder?
Es dauerte eine Weile, bis sich jemand in der Zentrale des Krankenhauses meldete. Katie beobachtete, wie Robert ein paar Schritte vor zum Bootssteg ging und auf den See hinausstarrte, der spiegelglatt vor ihnen lag. Es war totenstill, wie so oft im Tal.
»Medical Clinic Lake Louise. Was kann ich für Sie tun?«
Katies Stimme nahm die Tonhöhe ihrer koreanischen Großmutter an, bei der jeder Satz wie ein leiser Gesang klang. »Oh, bitte, Sie müssen mir weiterhelfen! Ich habe gerade erst erfahren, dass mein Bruder bei Ihnen eingeliefert wurde. Ich muss unbedingt wissen, wie es ihm geht. Ich bin hier am Flughafen, verstehen Sie, und versuche, einen Flug nach Vancouver zu erreichen …«
»Wie ist der Name?« Die Krankenschwester am anderen Ende war ähnlich verständnisvoll wie die im Howard University Hospital in Washington, wo sie mehrmals angerufen hatte, um sich nach Sebastien zu erkundigen. Na ja, so lange, bis sie dort herausgefunden hatten, dass Sebastien überhaupt keine Schwester hatte.
»Mein Name ist Fox. Eden Fox.«
Eden? Wie zur Hölle kam sie denn jetzt darauf?
»Ich meinte den Namen ihres Bruders.«
»Oh ja … klar. Benjamin. Benjamin Fox.«
Katie wurde verbunden, dann meldete sich eine Stationsschwester. Wieder sagte Katie ihr Sprüchlein auf, doch als sie diesmal nach Benjamin fragte, herrschte ziemlich lange Stille am anderen Ende. So eine Art Katastrophenschweigen, eins der schwarzen Löcher in der Kommunikation, deren Geheimnis man nicht ergründen wollte. Und dann fragte die Schwester vorsichtig: »Miss Fox, vielleicht wollen Sie lieber mit Ihrer Mutter sprechen? Ich kann sie holen.«
»Bitte, sagen Sie mir, was los ist …« Tränen wären jetzt sicher von Vorteil gewesen. Katie war eine gute Lügnerin, aber eine beschissene Schauspielerin – und geweint hatte sie das letzte Mal am Ufer des Potomac River. Scheiß drauf.
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