Die Prophezeiung der Nonne: Roman (German Edition)
überflog, »wer Gertrude Courtenay geraten hat, Euch in Dartford aufzusuchen und nach London zu bringen.«
So ruhig, wie es mir möglich war, versetzte ich: »Es kann sein, dass ich mich geirrt habe.«
Gardiner reichte das Schriftstück zurück und verlangte mit einem Wink das nächste. »O ja, ich weiß, dass Ihr zu Irrtümern neigt«, sagte er.
Keinesfalls durfte ich mich von ihm provozieren lassen. Sollte er mich ruhig für ein unfähiges Geschöpf halten; das Entscheidende war, er erfuhr nicht, dass ich ihm über meine Entdeckungen in Kloster Dartford nie die ganze Wahrheit gesagt hatte.
Es war sehr still im Zimmer, während Gardiner das zweite Schriftstück durchsah. Norfolk war verschwunden, ohne dass ich es bemerkt hatte. Hatte Norfolk den Winchester-Palast verlassen? Bei diesem Gedanken wurde mir kalt, trotz des lodernden Feuers im Kamin.
Gardiner lehnte sich in seinem pompösen Sessel zurück. »Ihr wolltet hoch hinaus mit Eurer geplanten Heirat mit Montague«, sagte er noch immer in diesem milden, nachdenklichen Ton. »Es gibt Leute, die glauben, er hätte Anspruch auf den Thron. Habt Ihr Euch für würdig gehalten, Englands Königin zu werden?«
»Ich bin dem König so treu ergeben wie Ihr«, entgegnete ich.
Er lächelte. »Als ich Euch im letzten Jahr vorgeschlagen habe, eine Ehe einzugehen, nur zum Schein, damit Ihr der Sache des wahren Glaubens besser dienen könnt, habt Ihr diesen Vorschlag auf Eure gewohnt unbeherrschte Art zurückgewiesen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Ihr Euch für einen Bewerber vom Format eines Montague aufsparen wolltet. Und dabei ist Montague ein so weltzugewandter Mann, so gar nicht der Gemahl, den ich mir für Euch vorgestellt hätte. Aber das spielt ja nun keine Rolle mehr – Ihr werdet nie Baronin Montague werden.«
Eins war mir bei dieser Rede deutlich geworden. »Euch ist völlig gleichgültig, was aus Montague und seinen Freunden wird«, sagte ich.
»Sie sind entbehrlich«, erwiderte er gelassen. »Wie auch Ihr, Schwester Joanna. Meinetwegen könntet Ihr wieder im Tower sitzen,wäre es Euch nicht gelungen, Euch Lady Maria gewogen zu machen. Solange die Tochter Seiner Majestät um Euer Wohl besorgt ist, bin auch ich es.«
»Ich brauche Eure Sorge nicht«, sagte ich, nahe daran, meine Selbstbeherrschung zu verlieren.
Gardiner musterte mich einen Moment lang schweigend. »Wisst Ihr, ich bin mir nicht einmal sicher, ob eine Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau, die das Keuschheitsgelübde abgelegt hat, vor dem Gesetz Gültigkeit besitzt. Der König hat dazu sehr klare Ansichten. Ich werde das bei meiner nächsten Audienz mit ihm besprechen.«
Zu meiner großen Erleichterung erschien in diesem Moment Norfolk und begab sich zu Gardiner, um sich mit ihm über irgendetwas zu beraten. Dann winkte er mir. »Wir brechen auf«, sagte er kurz.
»Wartet, Thomas.« Gardiner sprach mit einem seiner Bediensteten, und gleich darauf trug ein Page auf ausgestreckten Armen einen schwarzen Samtumhang mit einem in Gold eingestickten ›W‹ ins Zimmer.
»Wir möchten doch nicht, dass Lady Marias Schützling an einer Erkältung erkrankt«, sagte Gardiner.
»Ich danke Euch, Exzellenz«, sagte ich zähneknirschend und warf mir den schweren Umhang um.
» Di te incolumen custodiant .« Die lateinische Formel floss ihm honigsüß von der Zunge.
Eine hohe Fackel vor dem Portal beleuchtete den weiträumigen Prachtbau von Howard House, das nicht weit entfernt vom Winchester-Palast lag. Norfolk schwang sich aus dem Sattel und gab dem Mann, der schlafend neben der Fackel auf dem Boden hockte, einen Tritt. »Aufgewacht, Faulpelz!«, donnerte er.
Bedienstete stürzten aus dem Haus, andere kamen um das Haus herumgerannt, um unsere Pferde in den Stall zu bringen.
Richard half mir aus dem Sattel. Meine Beine, meine Arme, mein Hals und meine Schultern – alles tat mir weh vor Erschöpfung.
»Wie lange soll ich hier bleiben?«, fragte ich.
Richard zuckte mit den Schultern.
Norfolk, der meine Frage gehört hatte, sagte: »Bis alles bereit ist, um Euch nach Stafford Castle zu befördern.« Er wandte sich an eine Bedienerin mit harten Augen. »Gebt der Lady ein Zimmer.«
Meine Unterkunft an diesem ersten Abend in Howard House war schäbig und verlottert: das Bettzeug nicht sauber; schmutzige Becher auf einem Tisch. Doch meine Gedanken galten nur den neuen Gefangenen im Tower, in welch grauenvoller Umgebung sie diese Nacht zubringen mussten. In dem schweren silbernen Gewand, das
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