Die Prophezeiung der Steine
den Gerüchen und Geräuschen und dem Leben von Turvite. Ja, er liebte diese Stadt, liebte ihre Energie und auch ihre Käuflichkeit, die Art, in der sich ihre Bürger gerissen und zugleich großzügig zeigten, freigiebig mit Essen und Trinken, ansonsten aber jedes Kupferstück im Auge behielten. Er liebte das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein, eine Rolle im Leben der Stadt zu spielen, ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit jedem anderen Bewohner zu empfinden. Es mochte nicht viel geben, das er sein Eigen nennen konnte, aber er war ein Turviter.
Er stürzte in das Wirtshaus und besorgte Aylmer einen Humpen Met, nicht Ale. »Willst du mich betrunken machen, Junge?«, protestierte Aylmer.
Ash lachte nur. »Warum nicht? Der Arbeitstag ist zu Ende, warum sollten wir uns nicht betrinken?«
Später ging er mit einer der Kellnerinnen hoch, einer hochgewachsenen, drallen Blondine (derjenigen, die Doronit am wenigsten ähnelte). Er war zu betrunken, als dass er viel mehr fertigbrachte, als sich lachend mit ihr in den Laken zu wälzen. Sie schliefen ein, und als sie aufwachten, lachten sie wieder und seufzten, und dann bumsten sie ausgelassen und befriedigend bis zum Morgengrauen.
Beim ersten Tageslicht kehrte er nach Hause zurück und schlüpfte leise ins Haus. Aber nicht leise genug. Während
er den Flur entlangging, tauchte Doronit an der Tür zu ihrem Zimmer auf, blieb dort stehen und schaute ihn an. Er zwang sich dazu, reglos stehen zu bleiben, nicht zu erröten oder Ausreden vor sich hinzustottern. Sie schaute ihn mit hochgezogenen Brauen an und grinste plötzlich; es war ein echtes Lächeln, anders als alle, mit denen sie ihn zuvor bedacht hatte. Er erwiderte das Grinsen.
»Ich rufe dich zur selben Zeit wie üblich«, sagte sie. »Wahrscheinlich tust du besser dran, gar nicht erst schlafen zu gehen.« Sie verschwand in ihrem Zimmer.
Er beherzigte ihren Ratschlag, und ihm war leichter ums Herz, nicht nur wegen der Nacht mit der Kellnerin, sondern auch, weil er sich erstmals gegenüber Doronit behauptet hatte, und ihr Lächeln hatte ihm dies bestätigt. Vielleicht würde er es mit der Zeit schaffen, ihr irgendwie ebenbürtig zu sein.
Saker
Saker kehrte zu dem Haus zurück, das er von der Zauberin in Whitehaven in der Far South Domain geerbt hatte, und vervollständigte schließlich seine Landkarte. Jede Stätte, an der ein Massaker stattgefunden hatte, war in Rot markiert. Zwar nicht mit Blut, wie es Sakers Meinung nach angemessen gewesen wäre, doch zumindest in Rot. Jedes kleinere Schlachtfeld, auf dem weniger als zwanzig Menschen getötet worden waren, hatte er orange gekennzeichnet. Die wenigen einzelnen Morde, die er hatte nachvollziehen können, waren gelb eingezeichnet. Er hatte dafür Safran verwenden müssen, aber das war es wert gewesen. Jeder Tod, jede Schändung würde so nicht in Vergessenheit geraten.
Seine Wände waren bedeckt mit ausgebreiteten Schriftrollen, mit jedem noch erhaltenen Bericht über den Einfall, dazu kamen seine eigenen Aufzeichnungen. Seit ihm seine Lebensaufgabe klar geworden war, hatte Saker fünfzehn Jahre dafür benötigt, alle Informationen zu sammeln. Aber sie hatten nicht ausgereicht. Erst die Lieder von Rowan hatten ihm die Vervollständigung seiner Landkarte ermöglicht. Nach ihrem Wortlaut - und nach dem, was sie ausließen - hatte er die Domänen eingefärbt, um genau anzuzeigen, wo Actons Leute gemordet hatten.
Die Farben verliefen entlang der Ufer der Hauptflüsse und der Küstenlinie, was im Landesinneren Flächen ohne
Markierungen entstehen ließ. Was er mit diesen Flächen tun sollte, wusste er nicht. Sie waren ja nicht länger leer. In tausend Jahren hatten sich Actons Leute über das ganze Land verteilt, hatten die Wälder abgeholzt, die sein eigenes Volk in Frieden hatten wachsen lassen, und sich überall ausgebreitet, wo es einen Wasserlauf oder einen Platz gab, wo man Brunnen graben konnte. Auf leeren Flächen gab es keine Markierungen für Morde, die gerächt werden mussten, doch die dort lebenden Menschen hatten von all den anderen Morden profitiert, all dem Rot und Orange und Gelb. Nachdem er eine Stunde über der Karte gebrütet hatte, schattierte Saker diese Gegenden vorsichtig mit einem Blassgrün, für den Mord an den Bäumen. Vielleicht würden sich ja die Geister des Waldes seiner Armee anschließen. Wer wusste das schon? In diesen Zeiten war alles möglich, das hatte er begriffen.
Es war Zeit, abermals einen Versuch mit dem Zauber zu wagen.
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