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Die Prophezeiung der Steine

Die Prophezeiung der Steine

Titel: Die Prophezeiung der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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Etwas hatte gefehlt, aber dank seiner seherischen Fähigkeiten wusste er, dass es sich nur um eine Kleinigkeit handeln konnte, eine kleine Änderung an dem, was er ohnehin bereits tat … Er trat zu der mit Tuch verhüllten Schachtel neben seinem Fenster und schlug die Samtdecke zurück. Die Worte des Zauberspruchs waren nicht schwer, die dafür benötigte Konzentration jedoch war gewaltig. Er blendete die Geräusche der Straße aus, den Lärm, mit dem in der Küche des Nachbarhauses Töpfe gewaschen wurden, und auch die Intensität seines eigenen Herzschlags und seiner Atmung. Nun blieben nur noch die Knochen mit ihrem schwachen, erdigen Geruch. Er drückte sich das Messer gegen die Handfläche und vollzog den Schnitt, ohne mit der Wimper zu zucken.
    Sein Blut tropfte auf die Knochen, während er die Worte des Zauberspruchs sprach, und er fühlte, wie ihm das Herz
schwer wurde vor Schmerz und Liebe, als der Geist seines Vaters vor ihm erschien, äußerlich so, wie dieser vor fünfundzwanzig Jahren ausgesehen hatte, in dem Augenblick, in dem die Axt des Kriegsherrn ihn gefällt hatte. Damals war Saker fünf Jahre alt gewesen. Er ließ die Erscheinung auf sich einwirken; breitschultrig, aber nicht groß, dunkles Haar und nun bleiche Augen, sein ausgeprägtes, liebes Gesicht entstellt von der Kopfwunde, die ihn getötet hatte.
    Sein Vater lächelte ihn an und zog dann fragend eine Braue hoch.
    Saker wies auf die Landkarte. »Sie ist fertig«, sagte er.
    Sein Vater bewegte sich langsam zum Tisch und schaute auf die Karte. Er wies auf die grünen Flächen und schaute Saker an.
    »Der Mord an den Bäumen«, erklärte Saker.
    Sein Vater nickte. Er ließ seine Hand über die Umrisse der Western Mountains gleiten, hinauf zum Vorgebirge, wo ihr Dorf Cliffhaven gewesen war - und immer noch existierte. Er machte eine Geste, als wolle er an dieser Stelle auf den Tisch klopfen.
    Saker nickte. »Ich weiß«, sagte er. »Aber noch nicht. Wir müssen es erst woanders ausprobieren.«
    Sein Vater zog die Stirn in Falten und pochte ungeduldig auf den Tisch, obwohl seine Fingerspitzen durch diesen hindurchfuhren.
    Saker spürte das vertraute Ziehen im Magen; der Wunsch, seinem Vater zu gefallen, zog ihm die Eingeweide zusammen. Er wappnete sich dagegen. »Bald«, versprach er. »In mir fließt nicht genug Blut für alle Geister in Cliffhaven. Wir müssen eine Möglichkeit finden, das Blut zu verteilen, ohne dass der Zauberer dabei ums Leben kommt. Wir müssen es erst woanders versuchen.«

    Sein Vater machte nach wie vor ein düsteres Gesicht.
    »Wir sind ganz dicht dran«, sagte Saker. »Ich verspreche es.«
    Nun lächelte sein Vater und machte Anstalten, ihn zu umarmen. Saker sprach die letzten Worte des Zauberspruchs, die Worte, die er sich für diesen Moment aufgehoben hatte. Die Arme seines Vaters schlangen sich um ihn, und glückselig glitt er in die starken Arme, spürte die Hände seines Vaters auf seinem Rücken, legte den Kopf auf dessen Schulter. Er schloss die Augen und genoss die Vorstellung, wieder ein kleiner Junge zu sein, wie damals, als alles noch in Ordnung war.
    Der Zauber verblasste allzu schnell. Saker bedeckte die trockenen Knochen und wischte sich die Tränen ab. Er musste eine Möglichkeit finden, dass er länger andauerte, und zwar nicht nur für seinen Vater, sondern auch für seine Schwestern und Cousins und die ganze Familie. Die Knochen seiner Mutter waren nicht mehr zu retten, aber alle anderen konnte er herbeirufen … das ganze Dorf. Und dann würden sie sich zurückholen, was ihnen genommen worden war. Bis auf die letzte Kleinigkeit.

Ash
    Bei der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche nahm Doronit Ash zu den Klippen hinter dem Hafen mit, wo er am Abend des Festes die Geister getroffen und zum Reden gebracht hatte. Es war ein windiger, feuchtkalter Abend, und dünne Wolken bedeckten den sichelförmigen Mond, während die Wellen unter ihnen gegen die Felsen schlugen.
    Sie stellte sich an den Rand der Klippe und befahl ihm, sich hinter sie zu stellen. Dann fing sie an zu pfeifen.
    Die Melodie war schlicht, fünf Noten, immer wieder in einer Molltonart wiederholt. Ash wartete. Nichts geschah.
    Doronit fuhr immerzu mit dem Pfeifen fort. Allmählich wurde ihm schwindelig, ihm war, als lehne er sich gegen den Wind, in die Noten der Melodie hinein, wie gegen eine sich brechende Welle. Er fühlte sich leicht benommen und traurig, kummervoll fast, losgelöst von seinem eigenen Körper und sich doch des Bodens unter

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