Die Prophezeiung der Steine
auf den einer Frau, womit sie auf die Menschen wiesen, die von Krankheit gezeichnet waren und die noch vor der nächsten Wintersonnenwende sterben würden. Doch nicht immer entschieden sie sich dazu, einzutreten.
»Es gilt als ein Segen«, erklärte Doronit Ash. »Es gibt demjenigen die Gelegenheit, seine Angelegenheiten zu regeln, sich zu verabschieden. Die Geister tun das nur für die Leute, die sie mögen.«
Er schaute sich in dem leeren Zimmer um. »Hierher kommen sie nicht?«
Sie lachte kurz. »Freiwillig nicht. Komm.«
Sie führte ihn in die Nacht hinaus. Die Straßen waren so menschenleer, wie er sie noch nie gesehen hatte.
»Warum gehen die Geister nicht fort, Doronit?« Diese Frage stellte er sich schon lange.
»Weil sie wütend darüber sind, getötet worden zu sein, ohne dass ihre Mörder Wiedergutmachung angeboten hätten. Weil sie die Menschen, die sie lieben, nicht verlassen
wollen. Weil sie bei jemandem in der Schuld stehen. Weil sie Angst vor dem Dunkel jenseits des Grabs haben - und das sollten sie auch.«
»Aber jenseits des Todes ist doch wieder Leben.« Das hatten ihn seine Eltern gelehrt.
»Das glaubst du . Aber wer kann das schon sicher wissen? Vielleicht ist da gar nichts. Vielleicht... reibt sich der Geist am Tod auf, bis nichts mehr von ihm übrig ist.«
»Glaubst du das?«
Jemand, der das glaubte, dachte Ash, würde keinen Grund dazu haben, anständig zu leben. Es gäbe keinen Grund für Ehre, Mitgefühl oder Großzügigkeit, was, wie seine Eltern ihn gelehrt hatten, die notwendigen Eigenschaften für eine Wiedergeburt waren. »Das sind die Dinge, die etwas gegen die Dunkelheit ausrichten«, hatte seine Mutter gesagt. »Das sind die einzigen Dinge, welche die Dunkelheit jenseits des Grabs durchdringen und den Geist zu neuem Leben führen können.«
Doronit blieb stehen. »Ich denke nicht darüber nach.«
Sie war zu dem offenen Platz vorausgegangen, wo sie der schwarze Fels unter der Eiche erwartete. Es war der geheiligte Platz, wo, wie es hieß, einst die Götter von Turvite gelebt hatten, bevor Acton kam und sie alle vertrieb. Ash wusste es besser. Obwohl er nicht beim Namen gerufen wurde, wie es beim letzten Mal gewesen war, als er hier war, spürte er, wie die dem Stein innewohnende Macht ihm ein Zeichen gab.
Sie warteten. Es ging ein schneidender Wind. Ash spürte, wie seine Nase blau anlief vor Kälte. Er rieb sie sich mit seinen behandschuhten Fingern warm. Doronit stand reglos da. Nach und nach kamen die Geister, auf den Ruf reagierend. Einer nach dem anderen verließen sie die Häuser und glitten auf die Straßen, alle von diesem Ort angezogen.
»Sie kommen, um die Morgendämmerung an der alten heiligen Stätte zu begrüßen«, sagte Doronit leise. »Das ist für diejenigen, die ihre Schuld beglichen haben, die letzte Nacht.«
»Weil sie vor dem Tod gewarnt haben?«
»Was sonst kann der Tote für die Lebenden tun?«
Er dachte an das Mädchen, das er getötet hatte. Auch sie hatte ihn gewarnt, aber nicht einfach vor einem normalen Tod. »Tod der Seele«, hatte Martine gesagt.
Die Geister wirbelten und fegten um den Götterfelsen herum. Doronit wies erst auf einen, dann auf einen anderen. » Redet «, drängte sie sie. »Erzählt mir eure Geheimnisse.«
Widerstrebend fingen sie an zu erzählen, einer nach dem anderen, mancher kummervoll, mancher hasserfüllt. Sie erzählten ihr alles, was sie wussten, die albernen Geheimnisse der ersten Liebe und der kleinen Eitelkeiten und die gro ßen Geheimnisse, eigene und die von anderen. Sie sprachen von Verrat, Mord und großem Kummer, von Gewalt, Betrug und Wollust, von Habgier und Lügen, von häuslicher Gewalt und großer Unmenschlichkeit.
Ash hörte zu. Zu Anfang, als Doronit dem ersten Geist befohlen hatte zu sprechen, war er in Hochstimmung gewesen. Endlich kannte er nun jemanden, der wie er selbst Geister nicht bloß sehen, sondern sie auch zum Reden bringen konnte. Er war also doch nicht anomal. Aber als er die Geschichten hörte, die Doronit ihnen entlockte, wurde ihm übel. Aus ihnen strömten Geschichten von Verleumdung, von Vergewaltigung hinter verschlossenen Türen, von kleinen Schmiergeldern und von großer Korruption. Am schlimmsten waren die ganz alltäglichen Geschichten. Sie berührten ihn so, dass er den Tränen nahe war; sie waren so voller Liebe und Gram, Hass und Freude, es waren die Geheimnisse des Herzens. Ihnen zu lauschen beschämte ihn.
Dennoch hörte er zu. Doronit hatte ihn aus irgendeinem Grund
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