Die Prophezeiung der Steine
miteinander verbunden. Es war das erste Mal, dass Bramble auf einem Pferd saß, seit der alte Cuthbert, ein fahrender Kesselflicker, sie als Sechsjährige ein paarmal hatte auf seinem Zugpferd aufsitzen lassen. Es war eine große Höhe, aus der sie fallen könnte. Als das Pferd eine lang gezogene Senke überquerte und sie bei jedem Schritt scheinbar vom Pferderücken abhob, schluckte sie. Die Steigbügel schlugen dem Pferd gegen den Bauch, weshalb es erst unruhig antrabte und dann in einen kurzen, leichten Galopp fiel.
Sie packte den Sattelknauf und hielt den Atem an, als sie zum ersten Mal das berauschende Gefühl von Macht verspürte, als hätte ihr Körper sich unter ihr vergrößert und als gehörten Geschwindigkeit, Stärke und Beweglichkeit des
Pferds ganz ihr, wenn auch nur vorübergehend. Es war eine ungemütliche, wackelige Art der Fortbewegung, doch am Ende liebte sie sie.
Bramble führte den Rotschimmel zu einem schmalen, tief eingeschnittenen Bach mitten im Wald, zu ihrer Höhle. Eigentlich war es weniger eine Höhle denn eine Spalte zwischen zwei riesigen Felsen, aus denen eine Quelle entsprang. Seit ihrer Kindheit war Bramble hierhergekommen, wenn sie an einem kühlen, ruhigen Ort sein wollte, an dem sie nachdenken oder beten konnte. Die Felsen waren an ihren Unterseiten mit Moos bewachsen, und ihre rissigen Seiten lagen sogar im Hochsommer im Schatten, da die Bäume um sie herum vor allem Nadelbäume, Zedern und Eiben waren. Es war ein sonderbarer Ort, immer ruhig. Das Rufen der Vögel in den Bäumen über ihr klang weit entfernt; das Wasser aus der winzigen Quelle tröpfelte sanft und fortwährend selbst dann noch herab, wenn alle anderen Wasserläufe zugefroren waren. Der Ort wirkte heilig, aber Götter gab es hier keine, nur Stille.
Bramble riss ihren Unterrock in Streifen und knotete ein langes Band, mit dem sie am Ende der Felsspalte einen kleinen Bereich für das Pferd umzäunte. Das war nichts, was es aufgehalten hätte, falls es davonlaufen wollte, aber etwas anderes hatte sie nicht. Die Spalte war gerade groß genug für das Pferd. Falls Wölfe kamen, konnte es sich in sie zurückziehen und sich mit den Vorderhufen verteidigen. Es war in Sicherheit. Bramble nahm dem Rotschimmel das Zaumzeug ab und rieb ihn mit einem Grasbüschel trocken. Dann lehnte sie sich gegen den kühlen Fels und schaute ihm den ganzen Nachmittag beim Grasen zu. Während ihre Gedanken an den Rotschimmel die Erinnerung an dessen Reiter, den Mann des Kriegsherrn überdeckten, kehrte sie nach Hause zurück.
Doch die Erinnerung an ihn stellte sich in ihren Träumen in jener Nacht wieder ein, in denen sie ihm endlos in das Gesicht trat, er aber immer wieder nach ihr griff. Schweißgebadet wachte sie in dem Bett auf, das sie sich mit Maryrose geteilt hatte, und wünschte sich, diese wäre noch da. Falls die Männer des Kriegsherrn kamen und sie festnahmen, würde sie widerstandslos mit ihnen gehen und ihnen so keinen Vorwand geben, ihre Mutter oder ihren Vater zu drangsalieren. Aber es kam niemand, außer Eril, dem Gastwirt, der mit seinem Handkarren die Deckentruhe abholte. Er brachte die Nachricht mit, einer der Männer des Kriegsherrn sei tot aufgefunden worden.
»Ein Reitunfall«, sagte er und schüttelte dabei den Kopf. »Das war einer dieser leichtsinnigen Burschen, ist in eine Linde geritten, und - peng! - tot ist er. Der Kriegsherr ist nicht erfreut darüber, und das Pferd ist auch weg, aber das ist für ihn kein Verlust, denn es heißt, das Pferd habe dem Burschen selbst gehört. Halt die Augen offen danach, Mädchen«, sagte er, »Vielleicht bekommst du eine Belohnung.«
Es wäre ihr im Traum nicht eingefallen, den Rotschimmel gegen eine Belohnung zurückzugeben.
Vor Anbruch der Dämmerung brach sie am Morgen zum schwarzen Altar auf. Sie näherte sich ihm leise und verbarg sich dabei in dem dichten Erlenbewuchs entlang des Wasserlaufs.
Sie wollte nicht, dass einer der Dorfbewohner sie sah und sich fragte, warum sie beten sollte.
Es war niemand da; sie war früh genug gekommen. Ohne ein Geräusch zu machen, trat sie an den Felsen, da sie immer das Gefühl gehabt hatte, dass den einheimischen Göttern dies am liebsten war. Die Dörfler lachten und scherzten häufig, wenn sie sich von ihren Gebeten zurückzogen, aber das konnte sie nie verstehen. Spürten sie denn nicht die
Gegenwart der Götter, dieses Prickeln unter der Haut, das einem die Haare aufrichtete und es einem kalt über den Rücken fahren ließ?
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