Die Prophezeiung der Steine
Luft. Wie hoch sie saß! Wie weit es hinab bis zum Boden zu sein schien. Die Haut des Rotschimmels war warm, selbst durch die Decke hindurch. Er schien so stabil zu sein wie der Fels, von dem aus sie aufgestiegen war.
Da sitze ich nun , dachte sie und lächelte dabei, sehe aus wie ein Frosch auf einem Stein und habe keine Ahnung, was ich eigentlich tun soll.
»Es liegt an dir, Pferd«, sagte sie. »Gehen wir.«
Sie schnalzte mit der Zunge, wie sie es schon einmal getan hatte. Als Reaktion darauf legte der Rotschimmel die Ohren an. Sie schnalzte erneut und presste dann äußerst vorsichtig die Beine gegen seine Flanken. Es fühlte sich an, als versuche man, einen Baumstamm zu drücken, doch der Rotschimmel ging vorwärts, blieb nach kurzer Zeit allerdings wieder stehen. Sie drückte erneut, ein wenig fester dieses Mal, worauf er mit mehr Zuversicht den Hügel hinabschritt.
Erregung stieg in ihr empor. Abermals drückte sie zu. Der Rotschimmel fiel in einen Trab. Bramble spürte, wie sie das Gleichgewicht verlor, und ruderte mit den Armen. Sie rutschte seitwärts hinunter und landete direkt in einem Brennesselstrauch. Sie verbiss es sich, zu schreien und zu fluchen, damit das Pferd nicht erschrak und weglief.
Sie rappelte sich auf und dankte dabei den Göttern für
ihre Kniehose. Der Rotschimmel stand da und schaute sie mit belustigten, wissenden Augen an. Er wieherte leise.
»Ja, sehr lustig«, sagte sie. »Vielleicht beschränken wir uns heute einfach auf das Schrittgehen?«
Als Bramble auf ihn zuging, blieb er ruhig stehen. Sie fasste ihn an der Stirnlocke und führte ihn den Hang hinauf zu dem Felsen, von dem aus sie aufgestiegen war. Der Rotschimmel rieb seine Nase an ihrer Schulter. Bis zu diesem Augenblick hatte sie ihn als ein Wesen aus der Welt des Kriegsherrn betrachtet, das sie benutzen konnte, ein lebendes Wesen, das schon, aber eher wie die Gänse und Hühner, um die sie sich daheim kümmerte. Ein Haustier.
Doch die Art, wie er sie - davon war sie überzeugt - belustigt angeschaut hatte, wie er sie mit Zuneigung begrüßte, die Erkenntnis, dass er hier war, weil er sich dazu entschlossen hatte, auf sie zu warten, das war etwas, das sie noch nie zuvor erlebt hatte. Er war ein Begleiter.
Ihm einen Namen zu geben kam ihr genauso falsch vor wie Gebiss und Zaumzeug zu benutzen. Besitzer vergaben Namen. Besitzerin war sie in keiner Weise. Es war ja nicht so, als könnte sie ihn wirklich kontrollieren: Sie waren lediglich zwei Wesen, die Zeit miteinander verbrachten. Wenn er überhaupt an sie dachte, dann wahrscheinlich an »den Menschen«, und so würde sie also an ihn als »das Pferd« oder vielleicht »den Rotschimmel« denken.
Sie übte den ganzen Tag, im Schritttempo auf ihm zu reiten, und als sie nach Hause zurückkehrte, konnte sie kaum noch gehen. Ihre Oberschenkel waren wundgescheuert, und ihre Hüften schmerzten. Aber nichts würde sie davon abhalten, ihre Übungen am nächsten Tag fortzusetzen.
Als sie ihn striegelte - sie hatte zugeschaut, wie sich Stallknechte im Gasthaus um Pferde kümmerten -, stieß sie auf weitere Narben von den Sporen und der Peitsche und dachte
mit Befriedigung daran, wie der Mann des Kriegsherrn von ihrem Fuß getroffen zusammengebrochen war. Sofort machte sie wegen ihrer Albträume eine beschwörende Geste der Abwehr. Direkt nach dem Aufwachen hatte sie sich dazu gezwungen, diese Träume abzuschütteln. Sie fragte sich, ob sie diese Albträume haben würde, solange sie das Pferd behielt, die Beute ihres Mords, doch selbst wenn dem so war, war es der Rotschimmel wert.
Sie hatte die anderen Mädchen ausgelacht, wenn diese atemlos darauf warteten, dass einer der Jungen in ihre Richtung blickte oder wenn sie bei ihrer Hausarbeit von ihnen träumten und sich überlegten, was sie bei ihrem nächsten Treffen sagen würden. Aber wenn es um das Reiten und das Pferd ging, verhielt sie sich nun ganz ähnlich. In dieser Nacht träumte sie zwischen ihren Albträumen vom Reiten, von den Gefühlen, die sie überkamen, wenn das Pferd sich in Bewegung setzte und sie seine Muskeln unter sich spürte. Und am nächsten Morgen schwärmte sie von dem Wind in ihrem Haar, vergaß die Bohnen zu wässern, weil sie ihren nächsten Ausflug plante, und hörte gar nicht zu, als ihre Eltern mit ihr redeten. Die beiden schauten einander mit hochgezogenen Brauen an und nickten wissend, als sie errötete. Sie waren wohl erleichtert darüber, dass sie sich dieses eine Mal verhielt wie ein normales
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