Die Prophezeiung der Steine
Weile fort, während das Licht, das unter den Rändern des Schals hindurchsickerte, allmählich verblasste. Als sie unter dem Schal nur noch einen dunklen goldenen Schein wahrnahm, fingen Frösche an zu quaken, zunächst nur einige wenige, dann immer mehr, bis der Lärm das Boot vibrieren ließ. Das Geräusch erfüllte die ganze Umgebung.
Schließlich schabte der Bug des Boots gegen Erde, und Eel nahm ihr den Schal ab.
Bramble stand auf und blinzelte. Es war fast dunkel, nur noch wenige Spuren von Gold und Rosa bedeckten weit unten den flachen Horizont, der sich wegzubiegen schien. Alles war mit Schilf bedeckt, raschelnd, sich hin und her wiegend und mit dem nahezu ohrenbetäubenden Froschchor singend. Es gab aus Schilf gebaute Häuser, Halbkreise, die sich an den Boden zu klammern schienen, einige in der Größe eines kleinen Felds. Alle Gebäude standen auf Pfählen an den Ufern einer kleinen Insel, aufgereiht wie ein Hohlsaum an einem Unterrock. Überall waren Boote, die gestakt, festgemacht oder repariert wurden, einige so groß
wie das, in dem sie sich befand, andere winzig, gerade groß genug für eine Person.
Die Insel - fruchtbares, bebaubares Land - war der Hort von Vieh und Getreide. Ziegen wurden gerade von kleinen Jungen für die Nacht eingepfercht. Die Jungen riefen einander in hohen, weit hallenden Stimmen zu, brüllten sich Befehle und, dem Ton nach zu urteilen, Beleidigungen zu.
Die Luft war erfüllt von einem kräftigen und vielfältigen Geruch; Schilf, Schlamm, Dung, Rauch von den Feuern, welche die Jungen in der Nähe der Viehpferche entzündeten, und etwas Brotartiges, das irgendwo gekocht wurde und köstlich roch.
Bramble drehte sich um und wandte ihren Blick wieder der Fahrrinne zu, durch die sie gekommen waren, sah jedoch nichts außer Schilf und der entfernten Erhebung einer anderen Insel. Während sie noch schaute, kam ein Junge an das Ufer dieser Insel, sprang in eines der kleinen Boote. Dabei stieß er rhythmische, laute Rufe aus. Er stieß sich vom Ufer ab und kam auf sie zugestakt. Ihm folgte in einer einzigen Reihe riesiges, dickhorniges Vieh, stumpf in das Wasser marschierend, bis nur noch Köpfe und Hörner über die Wasseroberfläche ragten. Verblüfft sah Bramble zu, wie der Junge die Insel in ihrer Nähe erreichte, sein Boot anlandete und das ihm träge folgende Vieh in einen Hof trieb.
»Dort drüben ist Weideland«, sagte Eel, den ihre Miene zum Lachen gebracht hatte. »Geh weg von den Moskitos. Komm herein.«
Unter dem dröhnenden Lärm der Frösche lag noch ein anderes, ekligeres Geräusch, nämlich das Summen Tausender von Moskitos. Bramble schlug ein paar weg, ohne gestochen zu werden, und sprang dann aus dem Boot auf eine Veranda vor einem der lang gezogenen Gebäude.
»Meine Pferde?«, fragte sie.
Eel drehte sich um und rief einem der Männer in dem Boot etwas zu, woraufhin dieser eine Geste der Zustimmung machte. »Pike wird sich um sie kümmern«, sagte er. »Komm.«
Er führte sie in einen dunklen, ins Inselinnere führenden Schilftunnel hinein. In Abständen stützten riesige Schilfbündel das Dach, das sich hoch über ihnen wölbte. In der Nähe beleuchtete eine Lampe das Schilf, griff dessen Farbe auf, sodass sie in ihrer Umgebung in goldenes, durch den Schilfstaub ein wenig diffus wirkendes Licht getaucht wurden. Es roch süßlich nach dem Duftöl der Lampe. Rosen, dachte Bramble, und Moschus.
Es war der fremdartigste Ort, den sie je gesehen hatte.Aufgrund des großen Deckengewölbes fühlte sie sich klein, und ob ihr das gefiel, wusste sie nicht recht. Und trotzdem … wie friedlich es zu sein schien, wie warm und einladend und lebendig. Sie sah weitere Leute von Eel, alles Männer, die kleine Filzkappen mit Seitenklappen über den Ohren trugen, wunderschön mit Blumen- und Pflanzenmustern bestickt. Sie trugen lose sitzende, cremefarbene Hemden, manche über eng anliegenden Hosen, andere nur über einem Lendenschurz. Sie schauten sie neugierig an, und Bramble fragte sich, was sie wohl in ihr sahen. Eine des alten Bluts? Eine Verwandte? Oder bloß eine Fremde, der man nicht trauen durfte, so wie man keinem Fremden traute?
Ein junger Mann, der nur einen Lendenschurz trug, kam herein. Er lächelte sie strahlend an und wandte sich dann ab, um sich ein langes Hemd anzuziehen.
Eel lächelte erleichtert. »Das ist Salamander. Er spricht deine Sprache besser als ich. Er hat eine Zeit lang bei den Fährleuten gelebt.«
»Ich glaubte, mich in die Tochter des
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