Die Prophezeiung der Steine
jetzt bewahrheiten.«
»Genug Lieder für heute Abend«, sagte Drema energisch. »Gehen wir zu Bett.«
Gemütlich in seine Decken am Feuer eingerollt und mit dem Geruch von warmen, auf einem Gestell über der Asche liegenden Trockenäpfeln in der Nase, fiel Ash fast sofort in tiefen Schlaf. Mitten in der Nacht jedoch wurde er vom Geschrei des kleinen Ash geweckt. Er lag im Dunkeln und lauschte, wie Elva leise auf das Baby einsprach und wie der Kleine seinen witzigen Schluckauf von sich gab, der ihn immer befiel, wenn er die Brust bekam. Dann herrschte Stille, abgesehen von dem bedächtigen Knarren des Dachstuhls
unter der Last des Schnees, dem kaum hörbaren Zischen der mit Asche belegten Glut … und seinem eigenem Atem, langsam und regelmäßig.
Etwas an diesem Rhythmus brachte ihm eine Erinnerung von vor langer Zeit vor Augen: Er klammerte sich an den Rücken seines Vaters, während sie, irgendwo, irgendwann, als er noch klein genug war, dass sein Papa ihn den größten Teil des Tages trug, eine Straße entlanggingen. Sein Vater sang. Die Stimme seines Vaters war zwar nicht besonders schön, anders als die von Mama, doch Ash liebte ihren tiefen, vollen Klang, der ihn durchdrang, während er sich an seine Schultern klammerte. Mama zog ihren Handkarren hinter sich her, und das Rumpeln der Räder klang sogar noch tiefer. Sein Vater sang alte, äußerst sonderbare Worte. Ein paar Takte davon fielen Ash nun wieder ein, »Messer gereinigt, Blut fließt, Erinnerung ruft, Vergangenheit zeigt sich, die Knochen unter allem …«
»Das ist ein Lied, das man lieber vergessen sollte.« Die Stimme seiner Mama hatte scharf geklungen.
»Kein Lied sollte vergessen werden«, hatte sein Vater erwidert.
Ja, erkannte Ash, deshalb war ihm das Erlebnis in Erinnerung geblieben, obwohl er zu der Zeit noch ganz klein gewesen war. Es war das erste Mal überhaupt gewesen, dass er hörte, wie sein Vater seiner Mutter widersprach.
»Kein Lied sollte vergessen werden«, hatte sein Vater wiederholt. »Denk daran, Ash.«
Und das hatte er. Er hatte sie alle in Erinnerung behalten.
Dem kleinen Ash hatten sie es zu verdanken, dass der Winter nicht endlos zu sein schien. Die Wochen vor seiner Geburt hatten sich in die Länge gezogen, aber danach
vergingen die Tage wie im Flug, waren voll von morgens bis abends.
Nie hätte Ash geglaubt, welchen Unterschied ein kleines Baby ausmachen konnte. Keiner von ihnen bekam genug Schlaf, außer Gytha, die die nächtlichen Schreie des Babys ignorierte. Tagsüber liefen sie mit dunklen Ringen unter den Augen herum und tranken viele Tassen Tee, um wach zu bleiben. Bei Elva war es natürlich am schlimmsten, aber sie schämte sich wenigstens nicht, sich mit dem Baby für ein Nickerchen auf den Decken zusammenzukugeln. Die anderen hatten Arbeiten zu verrichten, selbst im Winter. Die Tiere mussten gefüttert, der Stall musste ausgemistet, das Stroh auf dem Scheunendach ersetzt werden, Wasser herbeigeholt, Nachttöpfe geleert und gesäubert, es musste gekocht, geputzt und gefilzt werden, genäht, gesponnen, gewebt und Holz gehackt werden.
Dann mussten die Windeln gewechselt werden, die Kleider gewaschen, das Baby vor dem Feuer gebadet, bei ersten Gehversuchen gehalten, getröstet und in den Schlaf gewiegt werden. Wenn man sich nur anschaute, wie sich der Ausdruck auf diesem winzigen Gesicht änderte - es war eine ganztägige Beschäftigung für sie alle sechs, was lächerlich war. Vielleicht nicht wirklich ganztägig, räumte Ash ein. Sie hatten schon noch ein wenig Zeit für anderes.
Mabry war ein begabter Holzschnitzer und fertigte feine Blumen- und Pflanzenschnitzereien auf allen möglichen Gegenständen an. Vor der Ankunft von Martine und Ash hatte er die Wiege des Babys getischlert. Am Tag, nachdem der kleine Ash zur Welt gekommen war, hatte er sich daran gemacht, die traditionelle Blume für Elvas Kinderhalskette zu fertigen, die alle Frauen von Actons Volk bekamen, die ihrem Mann ein Kind geboren hatten. Eine Kornblume war für einen Jungen, ein Gänseblümchen für ein Mädchen, geschnitzt
und bemalt vom Vater, so verlangte es die Tradition. Die Blume eines totgeborenen Kinds blieb unbemalt, um auf das ungelebte Leben hinzuweisen. Starb die Frau, wurde sie mitsamt der Halskette begraben. Die Kornblume, die Mabry für den kleinen Ash schnitzte und bemalte, war ein Kunstwerk, vielfältig und fein und doch ganz natürlich. Während der langen Winterabende arbeitete er an einem Paar Tafelteller,
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