Die Prophezeiung der Steine
ein stiller, grauer Mann, der allein lebte und dem dies gefiel. Sie brauchte sich keine Sorgen darüber zu machen, dass er es den Nachbarn gegenüber erwähnen würde, wo sie sich zur Mittagszeit aufgehalten hatte. Während er sie betrachtete, lag keine Spur von Neugier in seiner Miene, lediglich
Wiedererkennen, und sie fragte sich, was er wohl in ihrem Gesicht lesen konnte.
Fröhlichkeit war es nicht, das stand fest. Sie hatte eine Aufgabe zu bewältigen, und das Mindeste, was sie tun konnte, war Respekt aufzubringen. Kurz vor Mittag waren es drei volle Tage, seit sie den Mann des Kriegsherrn getreten hatte. Den Mann des Kriegsherrn getötet hatte. Und als seine Mörderin lag es an ihr, seinen Geist zu besänftigen, wenn er zum Leben erwachte.
Udalls Geschichte
Alles begann auf Sylvies Dach. Meine Hände waren kalt. Ich blies auf sie, um sie zu erwärmen. Dann packte ich mit der rechten Hand die Leiter, hievte mir die dritte Garbe Schilfrohr auf die linke Schulter und kletterte los. Mein Rücken tat mir weh, ganz unten, wie immer frühmorgens im Herbst.
»Meine besten Jahre habe ich hinter mir«, sagte ich zu dem Schilfrohr, und das Schilf flüsterte wie eh und je zu mir zurück.
Vorsichtig mein Gleichgewicht haltend, ging ich über den Firstbalken zum südlichen Ende des Giebels, zum hohen Ende, das die Leiter nicht erreichte, und legte dort das Schilfbündel nieder. Meine Ahle war in meiner Tasche. Ich setzte mich rittlings auf den Firstbalken und fing damit an, die Bündel so zu platzieren, dass sich das Schilf wie angegossen und wasserdicht anpasste, Bündel über Bündel. Dann band ich es mit dem kreuzweise verlaufenden Fischgrätenmuster der Dachdecker von Laagway fest.
»Ich werde zu alt für das hier«, sagte ich zu den Schilfrohren. »Man wird euch noch lange Zeit schneiden und trocknen und zusammenbinden, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das dann noch tun werde.«
»Antworten sie?«, erklang da eine Stimme von unten.
Die Steinedeuterin stand in dem Raum unter mir und schaute herauf. Sie grinste. »Es ist sonderbar, wenn dein Zu- 61
hause zum Himmel hin offen ist. Ich glaube, es gefällt mir«, sagte sie.
»Du warst immer schon ein komischer Kauz, Sylvie. Wenn der Winterregen einsetzt, möchtest du es nicht offen haben.«
»Dafür bezahle ich dich ja auch, alter Mann.«
Sie stieg auf eine Kiste an der Wand und steckte den Kopf durch eine Lücke zwischen zwei Sparren, um mich anzuschauen. »Wenn du dich alt fühlst, Udall«, sagte sie, »dann solltest du dir einen Lehrling nehmen.«
»Ein Esel schimpft den anderen Langohr.«
»Aha! Aber ich nehme mir bald einen Lehrling.«
Das war etwas Neues. Seit ich sie kannte, hatte Sylvie es immer abgelehnt, einen Lehrling anzuleiten. »Wer ist es?«, wollte ich wissen.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Jemand wird in den nächsten Tagen auftauchen. Deshalb habe ich gedacht, ich lasse das Dach machen. Damit es fertig ist, wenn er kommt.«
»Also ist es ein Er. Was sagen die Steine sonst noch?«
»Das willst du gar nicht wissen.« Sylvie strich sich ihr graues Haar aus der Stirn und spähte zu mir hoch wie eine Geschichtenerzählerin, die vorgab, Steinedeuterin zu sein. Mit schleppender, zitternder Stimme intonierte sie: »Oh, lieber Herr, Ihr wollt die Zukunft gar nicht kennen! Sie ist zu furchtbar.«
Ich lächelte. Es war eine gelungene Nachahmung von Piselea, einem Geschichtenerzähler, der sich den ganzen Sommer über im Gasthof mit Bier hatte aushalten lassen. »Sag es mir trotzdem.«
»Sie sagen, dass es Zeit für dich wird zu heiraten«, sagte sie forsch. »Ich habe heute Morgen für dich geworfen. Ich hatte da so ein Gefühl in den Knochen.«
»Heiraten. Ich - heiraten?« Mein Lächeln verbreiterte sich. »Sehr lustig.«
Aber sie meinte es ernst.
»Die Steine sagen es, und sie meinen es auch so, mein Freund. Verheiratet noch vor der Wintersonnenwende.«
Tja, das war ein Schreck. Seit meine Schwester Niwe vor vier Jahren gestorben war, hatte ich allein gelebt. Verheiratet. Mit wem denn? Im Dorf kam niemand infrage, und ich war durch meine Arbeit zwar herumgekommen, aber niemandem begegnet, an dem ich Gefallen gefunden hätte …. Na ja, jedenfalls nicht, seit Merris drüben in Connay den Schlachter Foegen geheiratet hatte. Und das war sechs Jahre her. Nein, sieben.
Verheiratet. Mit wem?
Den ganzen Tag über schnürte und band ich das Schilf, und wenn Sylvie im nächsten Winter ein wasserdichtes Dach haben würde,
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