Die Prophezeiung der Steine
dann, weil meine Hände manchmal besser wussten, was zu tun war als ich, und wenn es sein musste, konnte ich mein Fischgrätenmuster sternhagelvoll oder halb im Schlaf knüpfen. Jedenfalls war ich mit den Gedanken nicht bei der Sache.
Den ganzen Tag über ging ich die Liste der Frauen durch, die ich kannte, besprach jede einzelne mit dem Schilf und schlug mir jede wieder aus dem Kopf. Mathe war so übellaunig wie ein Drachen, Sel zu jung und Aedwina viel zu alt, abgesehen davon, dass dieser Jungstier von Sohn mit ihr lebte. Ich rätselte hin und her, das kann ich euch sagen, und als die kurze Herbstdämmerung hereinbrach, kletterte ich die Leiter hinab und klopfte an Sylvies Tür, um eine Deutung zu erbitten. Sie ließ mich auf dem Teppich Platz nehmen.
»Wer ist es?«, fragte ich und spuckte mir in die Hände.
Sie spuckte in die ihre und reichte sie mir. Als sich unsere Hände ineinanderschlangen, sah ich Sylvie mit neuen
Augen an, spürte die Stärke ihres Griffs und die Weichheit ihrer Handfläche. Doch wohl nicht sie?
Sie nahm fünf Steine aus ihrem Beutel und warf sie. Sie landeten allesamt mit der Stirnseite nach oben, sonnenklar.
»Die Vertraute«, sagte sie und zog die Stirn in Falten. »Frau. Nun, das überrascht ja nicht. Kind. Liebe. Tod.« Sie sann über die Bedeutung nach und berührte die Steine dabei leicht. »Also. Eine Frau, die du kennst, mit einem Kind oder mehr, jemand, den du liebst oder lieben wirst, durch den Tod zu dir gebracht. Tod durch Unfall, denke ich.« Ihr Blick wurde mitfühlend. »Es ist vielleicht nicht die, an die du denkst, Udall.«
»Nicht?« Ich löste mein Hand aus der ihren und setzte mich auf die Fersen zurück. »Jemand, den ich liebe oder lieben werde, mit einem Kind. Das muss Merris sein. Wer sonst? Foegen stirbt also?«
»Vielleicht ja. Vielleicht nein. Versuche nicht, weiter zu schauen, als die Steine es dir zeigen. Versuche nicht, deine Zukunft zu verändern.«
»Willst du damit sagen, die Zukunft steht fest? Habe ich bei dem, was mir geschieht, denn gar nichts zu sagen?«
»Udall, ich sitze hier auf diesem Teppich und deute die Zukunft. Und ich sehe, dass die Leute versuchen, zu verhindern, was ihnen geschehen wird. Ich sehe, wie sie verzweifelt versuchen, zu ändern, was ihnen vorhergesagt wurde. Und jedes Mal ist es genau das, was sie verändern wollen, was ihr Schicksal besiegelt. So ist das eben. Verhalte dich selbstsüchtig, um dein Schicksal zu verändern, und es führt dazu, dass dein Schicksal sich erfüllt.«
Ich stand auf und ging hinaus. Ich räumte das Schilfdach auf und hinterließ alles sauber. Am nächsten Morgen kehrte ich zurück, um die Arbeit zu vollenden, obwohl ich in der Nacht wenig geschlafen hatte. Hin und her ging es mit
den Garben, und meinen Gedanken ging es genauso. Falls ich loszog, um Foegen zu warnen, käme ich noch rechtzeitig an, um Merris in ihrem Gram zu trösten, sodass sie sich endlich mir zuwenden würde? Oder schlimmer noch, würde die Tatsache, dass ich dort war, den Unfall erst auslösen? Würde ich den Rest meines Lebens die Verantwortung für Foegens Tod und Merris’ Liebe tragen müssen?
Zwei Tage später hatte ich einen Auftrag in Pank, um dort das Haus eines Müllers zu decken. Bis zur Wintersonnenwende waren es noch drei Monate. Ich konnte mir später noch den Kopf darüber zerbrechen.
Den folgenden Tag verbrachte ich damit, Schilfrohre zu Garben zusammenzubinden und diese zu großen Bündeln zu schnüren, bereit für das Dach der Mühle. Jeder Knoten, den ich schnürte, ließ mich an Merris denken, die ich zehn Jahre zuvor als Lehrling angenommen hatte. Ich hatte ihr beigebracht, wie man diese Knoten schnürte; zunächst waren ihre braunen Finger ungeschickt gewesen, dann aber allmählich sicherer geworden, und ihre weichen, haselnussfarbenen Augen hatten sich auf das Schilf konzentriert, sodass ich sie unbemerkt beobachten konnte.
Meine Schwester hatte sie auch gemocht. Niwe sagte stets zu mir, ich solle etwas unternehmen, solle mich Merris gegenüber erklären. »Mach dem Mädchen anständig den Hof«, sagte sie, und jedes Mal, wenn sie es sagte, zog sich in mir etwas zusammen, denn in Wahrheit war Merris ein Mädchen und ich zu alt für sie. Zu alt, zu sehr in mich zurückgezogen, zu langweilig. Ich hatte Sylvie um Rat aufgesucht, doch sie hatte es abgelehnt, für mich die Steine zu werfen.
»Du weißt ganz genau, was du tun solltest, Udall«, hatte sie mich beschimpft. »Du hast bloß zu viel Angst
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