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Die Prophezeiung der Steine

Die Prophezeiung der Steine

Titel: Die Prophezeiung der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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Lagerhäusern, hatte sich sein Vater ihm zugewandt, um ihm die Stadt zu zeigen. Sie erhob sich in Schichten aus Braun, Weiß und Gold.
    »Es gibt gar kein Grün«, hatte Ash gesagt und war sich dabei dumm vorgekommen. Die ganze Welt war doch grün, außer im Schneeland.
    Seine Mutter schnaubte. »Turviters glauben, dass die Bäume der Luft die Fruchtbarkeit entziehen.«
    »Die Stadt sieht aus wie eine Schichttorte«, sagte Ash von Ehrfurcht ergriffen und dachte dabei: süß, lecker, köstlich.
    »Wie alter, muffiger Kuchen«, sagte seine Mutter. »Und voller Maden und Rüsselkäfer.«
    Eine Gruppe Frauen mit leuchtenden Kopftüchern und Kleidern ohne Hosen darunter war lauthals lachend an ihnen vorbeigegangen.
    »Ein paar Schmetterlinge und Marienkäfer sind auch dabei«, sagte sein Vater trocken.
    »Wo es Seemänner gibt, gibt es auch Schmetterlinge«, gab seine Mutter zurück. Dann wurde ihr Gesicht weicher, und sie lachten beide.
    Noch Jahre später hatte Ash in der Nähe jedes Hafens, den sie besuchten, nach Schmetterlingen Ausschau gehalten, doch er hatte festgestellt, dass sie selten dort waren.

    Ash schüttelte die Erinnerung ab und lief weiter. Er bog um das Zollamt in der Nähe der Docks und stieg den Hügel hinauf, vorbei an dem wabernden Geist des betrunkenen Bootsmannes, der sich auf den Stufen, auf denen er sich das Genick gebrochen hatte, herumdrückte, und vorbei an verdunkelten Tavernen und Freudenhäusern, vor denen lediglich eine einzige Fackel brannte. Die Huren schliefen. Sogar
die Tür des Seemannsheims, das nie zumachte, war zum Schutz vor der frühmorgendlichen Kälte geschlossen.
    Er hätte seinen Schritt verlangsamen sollen, während er den Hügel erklomm, doch er quälte sich weiter und murmelte dabei abermals den Refrain vor sich hin. Vor einer Kneipe lag ein Betrunkener und schlief. Vielleicht schlief er. Vielleicht war er auch tot.
    Schlagartig kam ihm das Gesicht des Mädchens wieder vor Augen. Jung war sie gewesen, vierzehn vielleicht, mit blondem Haar und flinken Händen. Wäre er der beschwipste junge Händler gewesen, für den sie ihn gehalten hatte, dann hätte sie ihn erledigt. Sie hätte ihn von den Eiern bis zur Kehle aufgeschlitzt und dabei angelächelt.
    Doch nachdem sie gestorben war - nachdem er sie getötet hatte -, war ihr Gesicht reingewaschen worden von jeder Gier und allem Hass. Sie hatte dagelegen wie ein eingeschlafenes Kind, das darauf wartete, dass seine Eltern nach Hause kamen.
    Ash erbrach sich auf die Straße. Gallenflüssigkeit brannte ihm in der Kehle. Keuchend blieb er eine Weile stehen, mit den Händen auf den Knien nach vorne gebeugt. Er verdrängte die Erinnerungen an das Mädchen, an den Geruch ihres Bluts, an die Wärme ihres Körpers, als er sie gegen die Wand schleuderte, an das leise Seufzen, mit dem ihr der letzte Atemzug entfuhr. Das alles verdrängte er und schluckte es hinunter. Dann richtete er sich wieder auf und rannte erneut los. Doronit wartete.
    Blitzartig kam ihm noch einmal der Moment vor Augen, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Es war früh am Morgen gewesen. Der Vortag war sehr lang und sehr entmutigend gewesen. Ganz gleich, wohin sie gingen, niemand hatte Interesse gehabt, einen Wandererjungen ohne Fertigkeiten und ohne Empfehlungen einzustellen. Die meisten
Handwerker und Kaufleute hatten ihn noch nicht einmal empfangen wollen, und wer es doch tat, machte spitze Bemerkungen. »Mit einem von euch im Haus könnte ich nicht mehr ruhig im Bett liegen und schlafen!«, meinte der Schlachter, der ihre letzte Hoffnung gewesen war. Ash war sich nicht sicher gewesen, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Ihm hatte es gegraut vor dem Beinhaus und dem Zerstückeln, vor dem ständigen Geruch von Blut. Doch immerhin aßen Schlachter gut, hatte er gedacht.
    Sie waren zu ihrer Unterkunft zurückgekehrt und hatten zusammengesunken am Tisch gesessen. Nach einem ganzen Tag voller Hass und Misstrauen war selbst seine Mutter zermürbt gewesen.
    »Vielleicht finden wir ja einen Wanderer, der dich aufnimmt. Einen Kesselflicker, einen Hufschmied oder so jemanden«, hatte sein Vater gesagt.
    »Nein«, hatte seine Mutter gemeint. »Bei einem können wir es noch versuchen.«
    »Bei wem?«, hatte Ash gefragt.
    »Sie heißt Doronit. Sie ist sesshaft. Sie vermietet Schutzwachen.«
    »Swallow!«, hatte sein Vater protestiert.
    »Ich weiß, es kann gefährlich werden. Aber es ist ein Handwerk, das immer gefragt sein wird. Und es ist …

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