Die Prophezeiung der Steine
gleichen Tisch wie die Gäste und aß das gleiche Essen; die Bedienung sprach ihn mit dem gleichen Respekt an. Er spürte, wie ihm warm ums Herz wurde. Bei all ihrer Begabung hatten seine Eltern nie an einem
gewachsten Holztisch gesessen und Essen und Getränke von livrierten Bediensteten angeboten bekommen. Und dank Doronit waren seine Tischmanieren so gut wie die der Kaufleute.
Er konzentrierte sich mit einem Stirnrunzeln angesichts seiner Verträumtheit wieder auf seine Umgebung, obwohl er nicht mit Ärger rechnete. Die jährlich abgehaltenen Tributabende bargen kaum eine Gefahr. Jeder wusste bereits, wie groß in diesem Jahr sein Anteil an den Gewinnen der Stadt sein würde. Die internen Machtkämpfe waren vorbei. Zwar wurde Groll gehegt, aber es würde wohl keinerlei …
Im hinteren Bereich des Raums bauschte ein Luftzug einen Türvorhang auf. Der daneben stehende Geist des Stadtrats wandte den Kopf, um durch die Lücke zu schauen. Ash stand auf und ging leise auf die Tür zu. Diese Tür führte nicht hinaus, sondern tiefer in die Versammlungshalle hinein. Einen Luftzug durfte es hier eigentlich nicht geben. Die Gebrüder Dung beobachteten ihn von der anderen Seite des Raumes mit ausdrucksloser Miene.
Er riss den Vorhang beiseite, die Hand auf seinen Dolch gelegt. Dahinter stand Doronit und lächelte.
»Gut«, sagte sie. »Sehr gut.«
Sie tätschelte ihm die Wange und schaute dann durch die Tür zu den Kaufleuten. Doronit trug ein Kleid aus dunkelrosa Seide mit heller Spitze und einem Dekolleté, das einen großzügigen Blick auf ihre Brüste gewährte. Ihr dunkles, ein wenig rot schimmerndes Haar hatte sie sich mit Saphirnadeln hochgesteckt. Sie war hübscher als jede andere Frau hier. Begehrenswerter. Aber ein Ehrengast war sie auch nicht gerade; nur die bedeutendsten Kaufmannsfamilien waren bei den Tributabenden zugelassen. Sie war bei der Arbeit, wie er selbst auch. An der Anspannung der Muskeln in den Armen und ihren hervorstehenden Wangenknochen
erkannte er ihren brennenden Wunsch, der auserwählten Gesellschaft an der erhöhten Speisetafel anzugehören.
»Du hast es mehr als jeder andere verdient, dort an der Tafel zu sitzen«, sagte Ash. »Was immer ich tun kann … Du solltest alles haben. Du weißt, dass ich dir helfen will … Ich könnte … Ich meine …«
Was meinte er denn? Doch wohl, dass er ein daherplappernder Narr war. Bestimmt würde sie ihn abweisen, sich von ihm abwenden. Verstimmt wegen seines guten Wahrnehmungsvermögens, das sich in seiner ersten Bemerkung zeigte, versteifte sie sich zunächst. Sein Gestammel jedoch ließ sie wieder lächeln.
»Ich weiß, dass ich dir vertrauen kann. Es ist gut zu wissen, dass ich jemanden habe, der sich für meine Interessen einsetzt«, sagte sie herzlich. Dabei versetzte sie ihm einen kleinen Schubs, so wie man es bei einem Kind macht. »Geh wieder an deinen Platz, Liebster.«
Während er an seinen Platz zurückkehrte, fühlte er immer noch die Berührung von Doronits warmen Händen auf seinem Rücken, auf seiner Wange. Unsicher, ob sie ihn verhöhnt oder für seine Aufmerksamkeit gelobt hatte, dachte er über die Bedeutung ihrer Worte nach. Weil er mehr als alles andere wollte, dass sie ihn lobte, hielt er auf dem Rückweg zu seinem Platz nach Anzeichen für Probleme Ausschau. Der Geist des Stadtrats beobachtete Doronit aus den Augenwinkeln heraus.
Ash wusste, dass Doronit noch andere ausbildete. Manchmal verschwand sie tagelang. Sie hatte noch andere Häuser in der Stadt, führte noch andere Geschäfte als die Vermietung von Schutzwachen. Er hatte keine Ahnung, was sie sonst noch alles tat. Das beunruhigte ihn, wenn er darüber nachdachte.
Waren ihre anderen Angestellten besser als er? Schneller,
klüger? Besser im Töten? Er musste unverzichtbar für sie werden.
Und wenn sie weg war, traf sie vielleicht einen Liebhaber … jemanden, der eher in ihrem Alter war, geistreicher, intelligenter, charmanter … Sie war schließlich doppelt so alt wie er; ihm fiel kein Grund dafür ein, weshalb sie sich für ihn interessieren sollte. Und doch hatte sie ihn dazu auserwählt, bei ihr im Haus zu leben; sie war nett zu ihm, kaufte ihm Kleidung und bildete ihn selbst aus, statt dies einem der anderen zu überlassen. Sie berührte ihn … Er erinnerte sich an jede Berührung, jeden Blick, jedes Lächeln. So würde sie sich doch sicher nicht verhalten, wenn sie ihn nicht mochte? Wenn er hart arbeitete und schnell lernte, geschickt und stark wurde,
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