Die Prophezeiung der Steine
Anzahl Menschen auf dem Land glaubte, dass er tatsächlich eines Tages von dort, wohin er geritten war, zurückkehren würde, falls das Land in tödlicher Gefahr schwebte.
Die Brosche schien vor Ashs Augen zu funkeln, von Geschichten zu erzählen, die sich vor langer Zeit ereignet hatten, von Chancen, die längst vertan waren. Vielleicht hatte es ja einen Moment gegeben, in dem seine Vorfahren sich hätten zusammenschließen und Acton davonjagen können; doch das hatten sie nicht. Ihre Siedlungen waren zu weit verstreut gewesen, und die Menschen, die in der Mitte des Landes lebten, waren von den Bergvölkern abhängig gewesen, um Angriffe abzuwehren, sodass niemand Acton hatte aufhalten können, als dieser die Festungsmauern gestürmt hatte. Es hatte niemanden gegeben, der wirklich gewusst hätte, wie man kämpfte, und auch niemanden, der die Bewohner der weit entfernten Dörfer um sich geschart und Widerstand geleistet hätte.
So stand Ash nun also in einem Juwelierladen der Stadt Turvite, die von seinen Vorfahren gegründet worden war, aber deren derzeitige Bewohner Nachfahren von Acton waren, und er wusste nicht einmal, welcher Geburtsrechte man ihn beraubt hatte. Es lag so weit in der Vergangenheit zurück - eintausend Jahre! -, dass heute kein lebender Wanderer die Geschichte seines Volkes aus der Zeit vor der Ankunft von Acton kannte. Jedenfalls nicht sicher
und verbürgt, auch wenn Ashs Vater ihn das, was von der alten Sprache noch bekannt war, gelehrt hatte. Alles, was ihnen geblieben war, waren Bruchstücke von Liedern und Geschichten sowie mancherlei Traditionen, Gebräuche und Aberglauben … und das Steinedeuten, das nicht nur Acton vorausging, sondern auch Ashs Vorfahren, und das, wie es hieß, direkt von den Göttern abstammte.
Der Mann wickelte die Brosche wieder ein, steckte sich die Börse fest in sein Hemd und zog sich den Mantel darüber zu. Ash blinzelte; es hatte den Anschein, als sei es nun dunkler im Laden als zuvor.
»Sonst noch Arbeit für mich?«, fragte der Mann die Juwelierin.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich gebe dir Bescheid, wenn ich noch einen Auftrag habe.«
Der Händler hatte die Hand immer noch auf seiner Tasche liegen. Zum ersten Mal schien ihm in den Sinn zu kommen, dass eine Geldbörse ebenso leicht gestohlen werden konnte wie eine Börse voller Rubine. »Begleitest du mich zurück in meine Unterkunft, Junge?«, fragte er. »Zum üblichen Satz?«
»Gefahrenzulage«, sagte Ash. »Jemand könnte darauf gewartet haben, dass Sie den Handel abschließen - den meisten Dieben ist Geld lieber als Edelsteine.«
Der Mann schnaubte, nickte dann aber und wartete darauf, dass Ash vor ihm durch die Tür ins Freie trat.
»›Acton, glücklich mit dem Schwert, glücklich unter den Laken, auserwählt von Göttern und all den Geistern …‹«, murmelte Ash.
»Hä?«, machte Hildie.
»Ein altes Lied.« Ash zuckte mit den Achseln. »Bis später dann.«
Leise und vorsichtig ging er aus der Tür hinaus und begleitete
den Händler bis zu seinem Gasthof, ohne dass es Probleme gab. Doch auf dem Weg zurück zum Haus von Doronit klang ihm der Rest dieses Lieds im Kopf: Acton, Bruder der Pferde, Acton, Bruder der Wölfe, Acton, Vater von Hunderten, Acton, Vater von uns!
Es löste eine leichte Übelkeit in ihm aus. Acton, der Mörder. Ash hatte ihn immer verabscheut. Und nun war er selbst ein Mörder. Das Gesicht des Mädchens trat ihm vor Augen, wie so manches Mal, bevor er schlafen ging oder, schlimmer noch, in seinen Träumen. So ein junges Gesicht. So auf ihn fixiert, auf seinen Tod. Das Messer in ihrer Hand, tief gehalten. Ihr helles Haar, ihr helles Gesicht, entspannt, nachdem sie gefallen war, ihre magere Brust ganz ruhig, ihre Hand, den Griff um das Messer lösend. Was er empfand, war nicht wirklich Schuld, sondern eher heftiges Bedauern; er bedauerte das, was sie beide in jener Gasse zusammengeführt hatte - die Umstände, das Schicksal, Pech.
Marvels Geschichte
Die Welt ist voll leichter Opfer, aber in meinen Augen war ich keines, ich nicht, die kleine Marvel. So haben sie mich in den verwinkelten Gassen von Turvite genannt, Marvel, ein Wunder, weil ich so schnell mit den Händen und so flink mit den Fingern war. Man führt kein schlechtes Leben als Taschendieb und Straßenräuber. Bei den Göttern, warum soll ich eigentlich lügen? Es ist völlig grauenhaft - unheimlich und schmutzig und kümmerlich, und immer muss man betteln. Da ist man tot besser dran, heißt es in anderen
Weitere Kostenlose Bücher