Die Prophezeiung der Steine
vielleicht würde dann ja …?
Bei den Abendessen des Stadtdirektors und den Abrechnungstagen der Kaufmannsgilde, an denen sich Kaufleute und Gläubiger im Verhandlungssaal versammelten, um ihre Schulden zu bezahlen und neue Handelsabkommen zu schließen, hielt er die Augen auf nach anderen Männern, die in ihrer Gunst standen. Doch er fand niemanden, den sie mit größerer Wärme anlächelte als ihn - selbst dann nicht, wenn er die Fähigkeit einsetzte, die sie ihn gelehrt hatte, nämlich in den Augen und dem Gesicht eines Menschen zu lesen. Sie beschäftigte noch viele andere Schutzwachen, doch keinen so jungen wie ihn. Es gab sonst niemanden, der bei ihr im Haus lebte und an ihrem Tisch aß. Das war tröstlich für ihn. Und schließlich berührten ihre Lektionen Bereiche, in denen er nicht völlig unwissend war.
Doronit hatte sich ihren Zeitplan sorgfältig ausgedacht. Sie musste ihn vor Anbruch der Wintersonnenwende fester an sich binden. Daher berief sie ihn eines frühen Herbstmorgens zu sich ins Arbeitszimmer. Es war ein einfacher Raum
an der Vorderseite des Hauses, in dem sie Verträge mit ihren Kunden aushandelte. Er war weder hell noch spielerisch mit Stoffen ausgeschmückt, dachte sie zufrieden. Das fachmännisch gearbeitete Holz und Leder sowie die lackierten Fensterläden waren wie eine Verkleidung, die den Kaufleuten, die ihre Schätze Doronits Angestellten anvertrauen wollten, das Gefühl geben sollte, dass sie eine tüchtige Geschäftsfrau war, wenn auch in einem für Frauen unüblichen Gewerbe. Ihr Arbeitszimmer wirkte gut organisiert, was für sie selbst auch zutraf, und es war schlicht, was für sie nicht galt. Auf dem Schreibtisch lag eine große Schiefertafel und daneben Kreide.
Sie bedeutete ihm, zur Tafel zu gehen. »Geografie. Die großen Handelswege kennst du ja wohl. Aber kannst du auch eine Landkarte zeichnen?«
Er nahm die Kreide in die Hand und fing voller Zuversicht an zu zeichnen, wobei er die Umrisse der Domänen markierte, alle elf, und dann die großen Flüsse und Städte. Ohne nennenswert ins Zögern zu geraten, summte er leise vor sich hin, während er seine Markierungen vornahm.
»Was ist das?«, fragte Doronit.
»Das ist ein Lernlied aus Foreverfroze«, antwortete er, »über Domänenflüsse.«
Er war augenscheinlich peinlich berührt davon, ein Kinderlied zu verwenden, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Doch Doronit nickte. »Nützlich.«
Er brauchte nicht lange, bis er die Landkarte fertig hatte. »Das hier sind die Hauptwege«, sagte er und wischte sich die Kreide von den Fingern. »Wenn du willst, könnte ich auch noch die Nebenstrecken eintragen …«
Sie lächelte. »Also hierbei, glaube ich, weiß der Schüler mehr als der Lehrer. Wenn ich etwas über Nebenstrecken wissen möchte, werde ich auf dich zurückkommen.«
Doronit war mehr als zufrieden, und das nicht nur in Bezug auf sein Talent, sondern auch wegen der Überzeugungskraft und Sicherheit, mit der er die Aufgabe gelöst hatte. Während er konzentriert gearbeitet hatte, war er vorübergehend ein Mann gewesen, kein Junge mehr. Bei der Vorstellung, einen Menschen, dem sie vertrauen konnte, einen starken Mann hinter sich zu wissen, stieß sie einen stummen Seufzer aus. Nie hatte sie jemanden gefunden, auf den sie sich verlassen konnte, aber dieser Junge konnte vielleicht werden, was sie sich wünschte. »Deine Geschichte kennst du wohl auch, oder?«, sagte sie und bedachte ihn dabei mit einem koketten Lächeln.
Er wurde ein wenig rot, setzte sich jedoch aufrecht und schaute ihr in die Augen. »Ja.«
»Bist du sicher?« Ein starker Mann in der Zukunft war ja schön und gut, dachte sie, aber sie konnte es sich nicht leisten, wenn er jetzt schon großspurig wurde. »Dann erzähle mir von dem Krieg zwischen den Western Mountains und den Central Domains.«
»Von welchem?« Sie hielt verunsichert inne, woraufhin er sie anlächelte - ein glückliches Lächeln, kein anmaßendes. »In den letzten tausend Jahren hat es drei gegeben.«
Ihr erster Impuls war es, ihm eine Rüge zu erteilen. Doch sie beherrschte sich. Dies konnte eine Gelegenheit werden, ihn weiter an sich zu binden. Ihn dazu zu bringen, sie so zu lieben, wie sie es wollte. Sie lachte und gab ihm zu verstehen, dass sie nicht über ihn, sondern über sich selbst lachte.
»Und ich dachte, ich kenne meine Geschichte!«, sagte sie. »Woher weißt du das alles?«
Er zuckte mit den Schultern. Offensichtlich war er zufrieden, wollte sich
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