Die Prophezeiung der Steine
zu bitten oder seinem Mörder gegenüberzutreten, und bei dem man direkt ein neues Leben begann. »Mögest du Wiedergänger werden und niemals wiedergeboren werden«, lautete eine Verwünschung.
Es war schwierig, bei Tageslicht Geister zu sehen. Die meisten erschienen lediglich als blasses Flackern in der Luft wie ein Hitzeflimmern über dem Pflaster; manche hingegen waren fassbarer, weiße Formen in der Gestalt des Toten. Wanderer konnten Geister angeblich besser sehen als andere, doch Bramble hatte das nie so empfunden. Vielleicht floss in ihren Adern ja nicht genug Wandererblut. Doch wie die meisten anderen war auch sie schon einmal dabei gewesen, als aus Toten Wiedergänger wurden, und sie wusste,
dass sie das Frösteln auf der Haut wiedererkennen würde, wenn der Geist kam.
Als sie sich der Linde näherte, hörte sie Stimmen. Sie blieb hinter einer Eibe stehen und beobachtete die Männer. Also hatte er Freunde , dachte sie. Drei Männer in der Uniform des Kriegsherrn saßen am Fuß des Baumes, auf der gegenüberliegenden Seite des Stammes, an dem der Blonde gestürzt war. Sie plauderten miteinander. Einer warf Kieselsteine gegen den Stamm einer nahen Weide, ein anderer, ein älterer Mann mit braunem Haar und einem Bart, hatte den Kopf geneigt und den Blick auf das Blätterdach über ihm gerichtet. Der dritte schließlich - der Rothaarige, der mit dem Blonden auf der Jagd nach dem Wolf gewesen war, schärfte seinen Dolch mit einem kleinen Wetzstein. Während Bramble zuschaute, spuckte er auf den Stein und schärfte die Klinge mit großer Inbrunst, als bereite er sie darauf vor, in Fleisch einzudringen.
Bramble war unentschlossen, ob sie sofort weggehen oder abwarten sollte. Falls der Blonde zum Wiedergänger wurde - und das würde er, das wusste sie in ihrem Innersten -, musste sie miterleben, was geschehen würde. Seine Freunde waren hier, weil er plötzlich gestorben war, doch sie glaubten, es sei ein Unfall gewesen. Falls der Geist so stark war, dass man ihn deutlich sehen konnte, konnten sie dadurch die Wahrheit erfahren. Andererseits, falls die drei sie hier, an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt, entdeckten, war der Tod noch das Beste, auf das sie hoffen konnte.
Der Geist nahm ihr die Entscheidung ab. Flimmernd und blassgrau nahm er Gestalt an, genau so auf dem Boden liegend, wie der Mann des Kriegsherren vor drei Tagen gelegen hatte. Bramble bekam selbst in so weiter Entfernung eine Gänsehaut. Die drei Männer sprangen auf, und der Geist tat dies auch. Sie traten einander gegenüber. Der Tote war lediglich
ein verschwommener Fleck, aber für seine Freunde war er deutlich genug.
»Du bist tot«, sagte der Rothaarige leise. »Du bist gegen den Ast geritten.« Er wies auf den Ast über ihren Köpfen. »Vor drei Tagen. Du bist jetzt ein Wiedergänger.«
Der Geist breitete seine blassen Arme aus und winkte ab.
»Doch, doch«, sagte der Rothaarige besänftigend. »Ich weiß, dass es ein Schock ist. Aber du bist wirklich tot.«
Der Geist wies auf den Ast und winkte erneut heftig ab.
»Ja, das ist der Ast«, sagte der Ältere. Seine Stimme war tief und hart. Er klang gelangweilt. »Finde dich einfach damit ab, Swith. Du bist tot. Es bringt nichts, es nicht wahrhaben zu wollen.«
Swith . Irgendwie beunruhigte es Bramble, dass der Blonde den gleichen Namen hatte wie ihr launischer alter Freund. Sie wollte ihn sich nicht als echten Menschen vorstellen mit einem Namen und mit Freunden, die sich um ihn sorgten.
Der Geist winkte und hob die geballte Faust in Richtung des Astes.
»Er verhält sich nicht so, als sei es ein Unfall gewesen«, sagte der Rothaarige mit Unbehagen. »Er reagiert nicht vernünftig.«
»Erwartest du von ihm, dass er sich jetzt anders verhält als zu Lebzeiten?«, fragte der Alte bissig. »Komm schon, wir haben getan, weshalb wir hergekommen sind. Lass uns nach Thornhill zurückkehren. Ich habe Arbeit zu erledigen, auch wenn ihr vielleicht keine habt.«
Der Rothaarige wirkte besorgt. »Und wenn es nun kein Unfall war?«
Der Geist wies mit den Armen auf seinen Freund und schien zu nicken, auch wenn Bramble es nur schwer erkennen konnte.
»Es war kein Unfall?«, fragte der Rothaarige. Der Geist machte eine heftig zustimmende Geste.
»Ach du heilige Scheiße!«, sagte der Alte. »Natürlich war es ein Unfall. Swith will bloß nicht als der Idiot in Erinnerung bleiben, der er gewesen ist.«
Der jüngste der drei, ein Mann mit großen Ohren, kicherte.
Der Geist fiel auf die
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