Die Prophezeiung der Steine
Kehle gehen. Wenn sie dann noch auf dem Rotschimmel saß, konnte sie ihm wenigstens dabei helfen, sie sich vom Leib zu halten, bis Beck sie unter Kontrolle hatte. Er hatte den Rotschimmel bewundert und würde ihn retten. Sie beschloss, sich am Abgrund zur Verteidigung zu stellen - eine schlechte Stelle, aber die einzige, die infrage kam.
Bramble klammerte sich an den Rotschimmel, der nun immer schneller durch den Wald galoppierte. Sie reckte den Hals, um einen Blick über die Schulter zu werfen. Beck hatte die Führung übernommen, sein Gesicht unter dem Bart war blass, sein Blick angespannt.
»Da!«, rief er. »Es ist bloß ein Junge! Schnappt ihn euch!«
Der Rotschimmel verfiel in einen panikartigen Galopp. Plötzlich begriff Bramble, wer für die Striemen und Narben auf seiner Haut verantwortlich war. Aber sie beide waren zu schnell … Sie waren zu dicht am Abgrund, würden nicht mehr rechtzeitig anhalten können.
Sie brachen aus den Bäumen hervor und ritten wie wild auf den Abgrund zu, ohne dass der Rotschimmel zögerte. Bramble überlegte, ob sie abspringen sollte, bevor er den
Rand erreichte. Dann hörte sie, wie Beck mit lauter Stimme rief.
Es gab Schlimmeres als den Tod.
Sie würden einen Satz machen und einen Moment in der Luft schweben, dann eine lange, verhängnisvolle Kurve beschreiben zu den Felsen und dem Fluss unter ihnen. Sie würden wie Blätter durch die Schwärme der Mauersegler fallen und dann von den donnernden Stromschnellen fortgespült werden. An diesen Gedanken klammerte sich Bramble. Wenn ihre Körper fortgespült würden, könnte man sie nicht identifizieren, und es bestand keine Gefahr, dass man gegenüber ihrer Familie Vergeltung übte.
Sie klammerte sich noch fester an das Pferd.
Sie spürte, wie sich die Hinterbacken des Rotschimmels unter ihr anspannten, und dann waren sie in der Luft.
Es war, wie sie es sich vorgestellt hatte, der Satz, der Moment, in dem sie in der Luft schwebten und der eine Ewigkeit anzudauern schien.
Unter ihr stiegen die Mauersegler durch den Dunst des Flusses auf, machten einen Schwenk und stießen herab, während der Rotschimmel zu fliegen schien. Bramble hatte das Gefühl, als umgebe die Gegenwart der Götter sie wie ein Luftzug. Erschreckt verlor sie das Gleichgewicht und rutschte seitwärts vom Rücken des Pferdes.
Sie spürte, dass sie fiel.
Mit einer eigentlich unmöglichen Bewegung seiner Beine beförderte der Rotschimmel sie wieder auf seinen Rücken. Es folgte ein langer, kreisförmiger Sturz, und Bramble wappnete sich, als sie die Klippen an ihnen vorbeirasen sah.
Zeit zu sterben.
Stattdessen verspürte sie einen gewaltigen Stoß, der sie vom Rücken des Rotschimmels katapultierte und zwischen die Felsen auf der anderen Seite des Flusses warf.
Auf der anderen Seite.
Der Rotschimmel verlangsamte seine Bewegung und drehte sich zu ihr um. Langsam stand sie auf, benebelt und angeschlagen. Klar erkennen konnte sie nichts, alles lag im Schatten, als wäre es Nacht. Sie langte nach vorn, um die Schulter des Rotschimmels zu berühren. Sie wusste, dass sie ihn berührte, spürte aber kaum die Wärme seiner Haut. Hören konnte sie kaum etwas, alles schien entfernt, dumpf. Sie holte zwar Luft, doch die Atemzüge flößten ihr kein Leben ein. Sie fühlte sich wie eine Tote, die noch aus Gewohnheit atmete, wie es Geister tun, wenn sie Wiedergänger werden, bevor sie erkennen, dass sie tot sind.
Ihr Blick wurde klarer, doch das Licht wirkte noch immer schummrig. Ihr Gehör kehrte allmählich zurück. Auf der anderen Seite des Abgrunds bewegten sich eine Vielzahl von Männern und Pferden und Hunden hin und her. Die Männer schrien einander an, überrascht und äußerst wütend.
»Das geht nicht!«, rief einer laut aus. »Das ist unmöglich!«
»Tja, er hat es aber getan, verdammt noch mal!«, sagte ein anderer. »Unmöglich ist es also nicht!«
»Auf zur Brücke!«, rief Beck. »Wir können ihn immer noch erwischen. Ich will dieses Pferd haben!«
Diese Worte ließen sie aus ihrer Erstarrung erwachen. Sie setzte sich auf den Rotschimmel und ritt los. Nach wie vor schien die Welt entfernt zu sein, doch als sie den Rücken des Rotschimmels unter sich hatte, spürte sie jedes Haar seines Felles so ausgeprägt wie immer, jede Bewegung spürte sie warm und kraftvoll unter sich. Der Wald um sie herum war wie ein Traum, der Rotschimmel aber war Wirklichkeit. Die Notwendigkeit, ihn in Sicherheit zu bringen, trieb sie voran.
Diesen Teil des Walds
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